Die Blume

(Sonntagmorgen III)

von Karl Otto Mühl

Karl Otto Mühl - Foto © Frank Becker
Die Blume

Sonntagmorgen III

Es ist Sommer, aber die Temperatur ist erträglich. Auf den Fußgängerwegen im Wald begegnen mir, oder überholen mich, Sport- Menschen mit vorgestreckten Köpfen . Auch viele dicke Leute mit und ohne Hund, aber selten im Laufschritt, Kampfverbände von Hausfrauen, die in breitenfüllender Formation vorwärts stürmen, atemberaubend schöne Mädchen in knapper Sportkleidung, auch sehr schöne Mädchen mit Schutz-Hund an der Leine und mit strengem Gesicht, sie grüßen nicht aus Angst, mißverstanden zu werden, Hundebesitzer mit ihren unberechenbaren Vierbeinern an der Leine, die entweder bemüht freundlich grüßen oder mit schlechtem Gewissen vorbeischauen, oder ledern und in Tarnfarben dahin stiefeln. Sie sehen nach Macht und Drohung aus.
Aber die alten, vertrauten Bäume schauen mir unbeirrbar entgegen, das grüne Dickicht flüstert Sommerzärtlichkeit, auch die alten, sterbenden, bemoosten, verfaulenden Bäume, Stämme und Stümpfe, sie zeigen Schönheit.
 
Zehn Minuten entfernt wartet die Bäckerei. Zwei der im Türeingang stehenden, rauchenden Bäckerinnen stehen bereit, bringen Kaffee und Brötchen zum Stehtisch vor dem Schaufenster. An der Theke steht eine alte, gebeugte Frau und verlangt zwei frische Brötchen. Vor dem Geschäft hat sie ihren kleinen Hund angebunden.
 
In diesem Augenblick nähert sich im strammen Schritt eine ältere, schlanke Frau, die eine Blume in der erhobenen Hand  hält. „Die geht zweimal am Tag vorbei“, flüstert die Bäckerin. „Sie geht zum Friedhof, zum Grab ihres Mannes. Er ist vor zehn Jahren gestorben.“
 
Nicht nur Hunde halten lange am Grab ihres Gefährten aus.
 
Als die Frau mit der Blume schon vorbei ist, bleibt sie plötzlich stehen, kommt zurück und übergibt schweigend ihre Blume der gekrümmten, alten Frau an der Theke. Da gibt es keine Gegenwehr, nur stummes Erstaunen.
 
Der Sonntagmorgen ist mit mächtigen, bronzenen Glockentönen eingeläutet worden.



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008