Revolver am Kopf

Schillertheater NRW - Wuppertal: „Popcorn“

von Frank Becker

Franziska Becker - Foto © Jürgen Diemer
Revolver am Kopf
 
Schillertheater NRW - Wuppertal: „Popcorn“
 
Der Wahnsinn regiert, ist allgegenwärtig auf den Kinoleinwänden, Fernsehschirmen, Titelblättern. Brutale Mörder genießen Popularität und garantieren hohe Einschaltquoten.
Jeder möchte am liebsten live dabei sein, wenn ein Perverser den Finger am Abzug krümmt und ein Opfer verröchelt. Die Namen Rösner und Degowski stehen für ein Trauma der deutschen Öffentlichkeit und ihrer hilflosen Polizei. Presse und Fernsehen wie auch die gierige Öffentlichkeit haben sich damals einen irreparablen Schaden zugefügt, sich decouvriert. Doch wir stehen hierzulande nicht allein mit diesem Problem. Der Brite Ben Elton hält dem internationalen Publikum mit seinem Stück „Popcorn“ einen gnadenlosen Spiegel vor - und behaupte keiner, es sei ein Zerrspiegel: Das Bild ist kristallklar. Amerikas Filmwelt dient als Hintergrund. Birgit Stoessel hat eine Bühne ganz in weiß gestaltet, die nur zu bald blutig ihre Unschuld verliert.
 
Der Regisseur cineastischer Gewalt- und Blutorgien Bruce Delamitri (Eric van der Zwaag) erhält, sehr nah an der Wirklichkeit (denken wir an die Erfolge von Natural Born Killers und Pulp Fiction), den Oscar für sein übles Machwerk „Ordinary Americans“. Die Wirklichkeit holt ihn und die Menschen, die ihn umgeben ein, als er nach der Verleihung mit dem Playmate Brooke Daniels (Franziska Becker) in seine Villa in Beverly Hills zurückkehrt. Die „Mall-Killer“ Wayne (Martin Bringmann) und Scout (Tina Eberhardt) haben sich Einlaß verschafft, den Kopf des Nachtwächters in der Reisetasche und werden zum tödlichen Alptraum für alle Beteiligten außer Bruce, der als einziger die sich wahnwitzig zuspitzenden Ereignisse überleben wird. Filmproduzent Karl Brezner (Hans Martin Fuchs) wird kurzerhand umgelegt, als er was Häßliches über das Mörderliebchen Scout sagt. Brooks Daniels wird kühl niedergeschossen, als sie den Versuch der Gegenwehr wagt, und einem langsamen Sterben überlassen. Farrah Delamitri, in Scheidung lebende geldgierige Ehefrau des Regisseurs (Annedore Kleist) muß als Beweis für die Ernsthaftigkeit eines Ultimatums des Mörders sterben und alle anderen kommen im Kugelhagel der stürmenden Polizei um. Was dazwischen geschieht ist das hoffnungslose, wenn auch raffinierte Ringen aller Beteiligten um eine Überlebenschance und vor allem um ihre Unschuld. Allen ist sie irgendwann abhanden gekommen und so suchen sie sie nun in der Schuld der. anderen wiederzufinden. Dabei wird jeder als Schuldiger erkennbar, vielleicht mit Ausnahme von Brooke, dem einzig wirklichen Opfer. Waynes Plan ist dumm, aber eben nicht ganz dumm: Er will für sich und Scout die Absolution für ihre bisherigen gemeinsamen Mordtaten erreichen, indem er Delamitri dazu zwingt, vor laufender Kamera zu bekennen, daß nur er mit seinen Filmen Impulsgeber für die Massenmörder gewesen ist, diese also faktisch Opfer und folglich unschuldig. Es mißlingt wie wir wissen, muß mißlingen. Was Wayne allerdings gelingt ist, das Millionenpublikum an den Bildschirmen der Mitschuld zu überführen, indem er ankündigt, niemanden zu erschießen, wenn alle Fernsehzuschauer abschalten. Fatal für die Geiseln.
 

v.r.: Tina Eberhardt, Martin Bringmann, Ensemble - Foto © Jürgen Diemer

Andreas Ingenhaag hat mit seiner Inszenierung in deutscher Erstaufführung dem Stück eine gültige Form gegeben, keine Frage offen gelassen und eine meisterliche Arbeit vorgelegt. Sein perfektes Darsteller-Aufgebot, allen voran Martin Bringmann in der von ihm atemberaubend angelegten Rolle des gewitzt-irrsinnigen Killers Wayne, steht hinter dem Erfolg. Bringmann gelingt der Zwitter aus Schlaukopf und Mordmaschine; Tina Eberhardt als Scout steht ihm ebenbürtig als dumm-schlaue, harm- bis skrupellose Kindfrau zur Seite. Franziska Becker als das von der Männerwelt begehrte, nichtsdestoweniger menschlich mißachtete Playmate liefert mit knisterndem Sex-Appeal (fabelhaftes Abendkleid von Birthe Kleine-Beerink) wie bebend vor Angst eine ganz starke Leistung, und Hans Matthias Fuchs ergänzt das Führungsquartett, als sei die Rolle des machtbewußten Filmproduzenten Karl Brezner für ihn geschrieben. Annedore Kleist, Eric van der Zwaag und Claire Wolff überzeugen als zerbrochene, verwöhnte, hab- wie ruhmgierige Upper-Ten-Familie. Daß trotz des allgegenwärtigen Grauens ab und an ein Lachen aus den angespannten Zuschauern herausbricht, ist dem galligen Humor Eltons, der raffinierten Dramaturgie und der komödiantischen Begabung des Ensembles zuzuschreiben, und daß das Stück dennoch seinen tiefen Ernst behält ist der feinfühligen Regie Ingenhaags zu danken.
 
Frank Becker, 26.4.1998