Der römische Brunnen

Vor 150 Jahren begann Conrad Ferdinand Meyer seine deutschsprachigen Dichtungen

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Conrad Ferdinand Meyer:
Der römische Brunnen
 
Vor 150 Jahren begann er seine
deutschsprachigen Dichtungen
 
Von Heinz Rölleke

In der Literatur- wie in der Musikgeschichte sind viele Namen von Künstlern verzeichnet, die bereits im Kindesalter kleine Meisterwerke schufen – Rimbaud und Hofmannsthal, Mozart und Rossini zum Beispiel.
Zu den wenigen Dichtern, die ihr eigentliches Werk erst spät begannen, zählt der Schweizer Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898). Er hatte seine literarische Karriere in Lausanne mit Übersetzungen französischer Literatur begonnen und strebte eine Laufbahn als Romanist an. Sein Spezialgebiet war im weitesten Sinn die Geschichte der deutsch- wie der französischsprachigen Schweiz. Mit dem Tod seiner Mutter im Jahr 1856 fiel ihm eine reiche Erbschaft zu, so daß er zeitlebens keinem Brotberuf nachgehen mußte. Er konnte sich nun zusammen mit seiner Schwester mehrere Italienreisen leisten, auf denen er sich in erster Linie den reichen Kunstschätzen des Landes widmete – vor allem war er von der römischen Renaissance und Michelangelos Werken beeindruckt. Später schuf er zahllose Gedichte auf Kunstwerke, das heißt: Er schuf Kunst auf der Basis von Kunst. Mit dem Versailler Frieden (26. Februar 1871) entschied er sich, künftig nur noch in der Sprache der Sieger zu dichten. Als erstes Thema nahm er sich noch in diesem Jahr die letzten Tage des Heros der frühen deutschen Reformationsgeschichte Ulrich von Hutten (1523) vor, die dieser - verbannt auf die Insel Ufenau im Zürichsee - verbracht hatte. 1872 kam bei einem Leipziger Verleger den Gedichtzyklus „Huttens letzte Tage“ heraus, der im Gefühl der deutschsprachigen Leserschaft nach dem militärischen nun auch wie ein künstlerischer Sieg über Frankreich ankam. Das Buch fand lange reißenden Absatz (28. Auflage im Jahr 1905) und bedeutete Meyers literarischen Durchbruch.
 
Mit diesem so überraschenden wie durchschlagenden Bucherfolg begann Meyer also genau vor 150 Jahren als bereits 47-jähriger seine schriftstellerische Laufbahn.
 
Zunächst machte er durch seine Novellen auf sich aufmerksam. Er gewann für diese damals blühenden Gattung erzähltechnisch formal ganz neue Seiten. Durch eine fast immer gesetzte Rahmenhandlung werden Distanz zum Stoff und eine durchgängig subjektive Wahrnehmungs- und Beurteilungsbasis gewonnen - fiktional wird die eigentliche Novelle nicht vom Autor, sondern einem keineswegs allwissenden Zeitzeugen aus dessen mehr oder weniger beschränkter Perspektive erzählt. Es gibt keinen auktorialen Erzähler mehr, der genau wüßte, was er warum und wie erzählt, und vor allem, was die Kunstwerke bedeuten. So entstehen für den Rezipienten rätselhafte Geschichten, in die er sich selbst und seine Perspektive einbringen muß, um sie zu verstehen. Diese Tendenzen erreichen bekanntlich wenig später im Werk Kafkas ihren Zenit. Ferner bringt Meyer ganz neue Themen in seine Novellistik ein, deren Interesse erkennbar auf die psychologischen Aspekte fokussiert ist. So deutet er in der Meisternovelle „Der Heilige“ (1880) durch eine unauffällig eingebrachte Symbolik ein ganz neues Psychogramm des nur scheinbar längst bekannten, schon drei Jahre nach seinem Märtyrertod heilig gesprochenen Thomas Becket von Canterbury, an. In „Die Leiden eines Knaben“ (1883) sind Musils „ Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ (1906) sowie die gegenwärtig immer noch geführten schulpädagogischen Diskussionen unverkennbar vorgebildet.
 
Als Historiker wählte er Figuren aus allen Jahrhunderten – vom frühen 10. („Die Richterin“) bis zum 19. Jahrhundert („Der Schuß von der Kanzel“). In der jeweiligen Zeit genau verortet (dabei überwiegen die aufgeregten Epochen des 16. und 17. Jahrhunderts mit drei bzw. zwei Beispielen), werden zeitlose Probleme abgehandelt: Zufall oder Schicksalsfügung („Das Amulett“); die allmähliche Wandlung des schönen, hochgebildeten und genußfreudigen Kanzlers zum asketischen, rachsüchtigen Erzbischof („Der Heilige“), eines Pfarrer, der zum patriotischen Freiheitshelden wird („Jürg Jenatsch“). Auf solche Zweipoligkeiten spielen schon die meisten Titel an: „Der Schuß von der Kanzel“, „Die Hochzeit des Mönchs“, „Plautus im Nonnenkloster“ oder „Angela Borgia“.
 
Früher gehörte die Besprechung von ein oder zwei Meyer-Novellen zum gymnasialen Deutschunterricht – das ist außer in der deutschsprachigen Schweiz leider kaum noch der Fall. Die Schüler lernen in der Regel keine Prosadichtungen des sogenannten Symbolismus und damit keine Brücke zwischen den Epochen des Poetischen Realismus und des modernen Expressionismus kennen.
 
Um die Kenntnis der Lyrik dieser Übergangszeit steht es hoffentlich immer noch etwas besser. Gedichte Meyers, Georges, Hofmannsthals oder Rilkes finden sich in einigen Anthologien, die für den gegenwärtigen Deutschunterricht herangezogen werden. „Der römische Brunnen“ von Conrad Ferdinand Meyer gehört (auch nach Meinungsumfragen) zu den bekanntesten Gedichten aus dieser Zeit. Schon 1882, als Meyer einen Band seiner Lyrik zusammenstellte, wurde es mit einem Schlag berühmt – und das setzte sich bis 1917, als die 88. Auflage (!) dieses Bandes erschien, ungebrochen fort.
 
1955 kam „Der ewige Brunnen“, die von Ludwig Reiners zusammengestellte Anthologie, heraus, deren Titel deutlich auf das Meyer'sche Gedicht anspielt. Sie wurde bis 2005, als die nicht immer sinnvolle Neubearbeitung durch Albert von Schirnding erschien, in mehr als 500.000 Exemplaren verkauft und ist damit die erfolgreichste Lyrik-Antholgie in deutscher Sprache. Die Titelvignette deutet stilisiert den römischen Brunnenmund der Bocca della Verità aus der Vorhalle zu Santa Maria in Cosmedin an (die Droemer'sche Ausgabe Sämtlicher Werke bildet 1956 auf dem Umschlag erkennbar den von Meyer besungenen Brunnen ab).
 
In seine maßgebliche Ausgabe der Gedichte von 1882 stellte Meyer den „Römischen Brunnen“ in die vierte Abteilung mit dem Titel „Reise“, die hauptsächlich Stätten und Kunstwerke vom Norden bis zum Süden Italiens, die er bereits 1858 kennengelernt hatte, zum Thema haben. Zu seinem berühmtesten Gedicht regten ihn die beiden, zu Anfang des 17. Jahrhunderts durch den Niederländer Giovanni Vasanzio geschaffenen, einander ähnelnden Springbrunnen Fontana ovale und Fontana rotonda im Garten der Villa Borghese auf dem römischen Pincio an. Nach sechs Vorfassungen in jeweils zwei Strophen, die zwischen 1860 und 1870 entstanden, vollendete Meyer sein Brunnengedicht erst 1882 in der endgültigen einstrophigen Version.
 
Der römische Brunnen
 
Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.
 


Foto © Frank Becker

Wenn man die Vorfassungen mit diesen acht Versen vergleicht, fällt sofort Meyers Bestreben nach absoluter Kürze oder Dichte auf. So ändert er noch in der allerletzten Überarbeitung den Schlußvers, der bis 1869 lautete „Und alles strömt und alles ruht“, zu „Und strömt und ruht.“ Damit wird der Vers knapper und ruhiger, sozusagen statisch wie der Brunnen selbst. Das Gedicht zeigt bewußt einfache Sprach- und Reimform (zwei mal vier Kreuzreime in regelmäßiger Ordnung, in denen die u-Kadenzen hörbar überwiegen). Ein exakt durchgehaltener vierhebiger Jambus ist das grundlegende Versmaß, das nur in der Schlußzeile zu einem zweihebigen Jambus verdichtet wird, und das vor allem durch die auffällig ins Ohr fallende gegenmetrische Akzentuierung der Eingangssilbe, die zusamt der ebenfalls betonten Folgesilbe eine 'Schwebende Betonung' bildet (gleichsam die Beobachtung, daß der senkrecht dynamisch aufsteigende Wasserstrahl eines Springbrunnens auf seinem Zenit- und Umkehrpunkt zu stehen scheint): „f stéigt der Stráhl und fállend gíeßt“. Dieser metrische Geniestreich hat den jungen Hofmannsthal wie ein Blitz getroffen; er notiert sich 1907: „das Besondere von Rhythmen bei Meyer (nach oben reißend)“. Die Eingangs- und die Schlußverse korrespondieren miteinander. Sie machen den geradezu plötzlich erschreckenden dynamischen Beginn des Gedichts sichtbar sowie die Ruhe, zu der die Sprachmelodie am Ende führt, hörbar. In diesem Rahmen wird das symbolstarke Bild einer Dauer im Wechsel (das nunc stans) imaginiert: Das Wasser bewegt sich („strömt“) unaufhörlich, erscheint aber in der Spitze des Strahls und in der immer gleichbleibenden Figur, die das fließende, in dieser Hinsicht mit den Umrissen des Brunnens bildet, als statisch. Dem entspricht die Syntax des Gedichts: Es besteht aus einem einzigen Satz, der den Eindruck einer immerwährenden Gleichzeitigkeit wiedergibt, die der gleichmäßig strömende Brunnen dem Betrachter visuell vorstellt. Das Gedicht gibt konsequent nur optische Eindrücke wieder (gänzlich getilgt sind die akustischen Sinneseindrücke, wie sie noch in den Vorfassungen gegeben sind). Die Einordnung in die Rubrik 'Dinggedichte', wie sie von Interpreten häufig angeboten wird, trifft den Charakter des Gedichtes nur zu einem Teil. Gewiß wird hier ein Ding (der strömende Brunnen) scheinbar ganz realistisch vorgestellt; darüber hinaus darf aber dessen durchgängig symbolischer Gehalt nicht verkannt werden, wie er in den beiden Schlußzeilen kulminiert. Hugo von Hofmannsthal hat diese 1925 in einem Aufsatz über Meyer aufs höchste gerühmt:
 
             Welche Herrlichkeit des Fallens in diesen beiden Zeilen […] aber auch des        
             Sinnes, denn nie ist die Sprache zaubervoller, als wenn der Dichter sie das          
             Unmögliche, das schlechthin Widersprechende aussagen läßt.
 
Die Vorstellung eines fortwährenden Strömens allen Seins weist auf älteste philosophische Erkenntnisse zurück. Für die Vorsokratiker Thales (6. Jahrhundert v. Chr.) und Heraklit (5. Jahrhundert v. Chr.) war das Wasser (ΰδωρ) der Ursprung (αρχῄ) allen Seins, πάντα ῥεἶ (alles fließt) ist die bündige Formulierung Heraklits. Goethe statuiert in „ Eins und Alles“:
 
                        Nur scheinbar stehts Momente still
                        Das Ewige regt sich fort in allen.
 
Und wie Meyer in der Bahn des Springquells hat auch schon Goethe ein Symbol für die Seele des Menschen, das heißt für sein Dasein, gesehen:
 
                        Des Menschen Seele
                        Gleicht dem Wasser:
                        Vom Himmel kommt es,
                        Zum Himmel steigt es,
                        Und wieder nieder
                        Zur Erde muß es,
                        Ewig wechselnd.
 
Sein „Gesang der Geister über den Wassern“ entstand im Angesicht des Staubachtalfalls im Berner Oberland, dessen Wasser ganz ähnlich dem des römischen Brunnens fließend „strömt“ und in der immer gleichen Form „ruht“.
 
Meyers Gedicht kann man als Symbol eines menschlichen Lebenslaufs in vier Stufen auffassen. In der ersten Jugendzeit steigt er auf; nach seiner Reifezeit bringt er Frucht, indem er - sich hinab bewegend - das Rund der Marmorschale füllt. Diese wird durch das Wasser verschleiert wie eine Braut bei der Hochzeit. Die Frucht dieser Verbindung ist ein Überfluß, der in der nächsten Lebensstufe und wohl auch in der nächsten Generation (die zweit Schale) weitergegeben wird. Die dritte Schale ist die größte; in ihr wallt die Flut der Lebens und der Lebendigen (zugleich kann auch hier eine dritte Generation mitgedacht sein). Aber nicht nur in ihr kommt das strömende Lebenswasser zur Ruhe, sondern es ist ein immerwährendes stets gleichförmiges Nehmen und Geben. Dieses Symbol zu bedenken, ist so schön, wie die Betrachtung des römischen Brunnens – eines Kunstwerks, das in Meyers Kunst eingegangen ist und auch in diesem Gedicht ewig weiter lebt.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021