Die Krise

Eine Erzählung

von Eugen Egner

© Eugen Egner
Die Krise

Als Maler war ich am Ende. Ich warf alles auf den Müll und gab meine Wohnung auf. Im Hause des mir durch eine frühere Freundin flüchtig bekannten Ehepaars Lüt­zow bezog ich, auf ein Jahre zurückliegendes, mir fahr­lässig gemachtes Angebot eingehend, eine Dachkammer. Länger als Herrn Lützow lieb war, partizipierte ich an sei­nem Haushaltsbudget. Bald verlangte er, ich solle Kost­geld zahlen oder verschwinden. Doch davor bewahrte mich seine Ehefrau Anneliese, die mich gern im Hause litt.
  Mit der Zeit gewann ich unweigerlich intime Kennt­nisse der Lützowschen Ehesituation, die nur zerrüttet ge­nannt werden konnte. Die Frau wohnte im Parterre, der Mann in der ersten Etage. Ein jedes schlief in seiner Hälfte des durchgesägten Ehebetts. Beide Ehepartner waren mit eigenen Farbfernsehern und Stereoanlagen ausgerü­stet. Unten lief Frau Lützow mit Kopfhörern an meter­langem Kabel herum und hörte ihre Radaumusik, oben genoß der Gatte Wagner-Opern und Bach-Kantaten un­ter gleichen Umständen.
  Es ergab sich ganz von selbst, daß ich viel Zeit im Erd­geschoß bei der vernachlässigten Ehefrau verbrachte. All­gemach gewann Anneliese mich herzlich lieb und ver­wöhnte mich nach Strich und Faden. Von ihr ermuntert und mit Material versorgt, nahm ich die künstlerische Arbeit wieder auf. Kaum schlief ich noch in der Dach­kammer. Herrn Lützow ging ich aus dem Weg, denn er hatte kein freundliches Wort mehr für mich. Was ver­schlug's? Wir beiden Renegaten im Erdgeschoß waren bei der Verwirklichung unseres gemeinsamen Lebenspla­nes gar nicht auf seine Unterstützung angewiesen. Von ihrem greisen Vater, der seinen Schwiegersohn am lieb­sten erwürgt hätte, erhielt Anneliese jede gewünschte Summe. Fidel ging es zu bei uns! Lützow mußte im Wirtshaus essen, denn seine angetraute Küchenmagd be­suchte mit mir Konzerte, Programm-Kinos oder Abnor­mitäten-Kabinette.
  Dieser intensiven Ausgehphase folgte eine Zeit der Häuslichkeit. Unvollendete Gemälde und Pullover wur­den begonnen. Anneliese und ich lagen den ganzen Tag im Bett, abends mit gedämpfter Beleuchtung. Beide stell­ten wir bei uns eine deutliche Gewichtszunahme fest. So verging ein schönes Jahr.
  Eine sensationelle Zäsur war zu verzeichnen, als Bego­nia die Szene betrat. Begonia war Sängerin am örtlichen Opernhaus, ursprünglich am Teatro Musicale di Poggibonsi. Lützow hatte sie sich zugelegt, um seiner Frau zu demon­strieren, wie man mit Stil außereheliche Beziehungen pflegt. Bis an die Grenze seiner finanziellen Leistungsfä­higkeit hatte er die schlechtbezahlte Inhaberin eines hoch­dramatischen Soprans mit Schmuck und modischer Klei­dung behängt, ja sogar mit einem schnittigen Kleinwagen ausgestattet. Nie sah man Lützow mehr ohne Lippenstift­spuren im Gesicht oder am Kragen.
  »Sie sollen ja so schnell altern, die armen Südlände­rinnen«, meditierte Anneliese. Begonia näherte sich der Endphase ihrer Hochblüte; ein Mann ohne festen Cha­rakter konnte sich an ihr leicht zum Idioten machen. Und sie kam sogar zu mir ins Haus! Nur mit Mühe konnte ich mich vor Anneliese beherrschen, die mir täg­lich ärger auf die Nerven ging mit ihrer huhnhirnigen Art und dem kreischenden Gelächter. Sie vernachlässigte ihr Äußeres, ultramarinblaue Haare paßten ebensowe­nig zu ihr wie die ordinären Hosen, die sie seit dem letz­ten Schlußverkauf trug. Ich verlagerte meine Präsenz zunehmend auf die Dachkammer und schützte Welt­schmerz oder Migräne vor.
  Wann immer ich konnte, beobachtete ich Begonia, die ständiger Gast des Hauses Lützow war. Bald stahl ich ihre Photographie aus Herrn Lützows Brieftasche. Der Dieb­stahl konnte nie aufgeklärt und mir nichts nachgewiesen werden. Aber die Situation war bedenklich geworden, meine Tage bei Lützows waren gezählt.
  In einem Teil des Gartens, dessen Betreten mir und so­gar Anneliese so streng verboten war wie einst ein Teil des Paradieses den ersten Menschen, pflegte während der Theaterferien Begonia ihren Leib der Sonnenstrah­lung auszusetzen. Lützow lag im Liegestuhl neben ihr. Weil sie im Privatleben allergisch gegen Opernmusik war, trug er seine Kopfhörer, die durch ein Kabel von Über­länge mit dem »Audiocenter« im ersten Stock des Hau­ses verbunden waren. »Die Walküre« hörte er, während das Auge wohlgefällig auf dem ruhte, was an Begonia ach so vergänglich war. Zu dem Zeitpunkt, da ich mich zur Offensive gezwungen sah, lag sie wieder wie die Sünde im Garten. Wenn ich mich in Lützows Studierzimmer schlich, solange der im Garten war, konnte auch ich das Auge mit Wohlgefallen auf der Sängerin ruhen lassen. Ich begann den mildtätigen Sinn tiefer Verschleierung zu ahnen.
  Anneliese war an jenem Augustnachmittag bei ihrem Vater, um sich Trost und Geld zu holen. Im Treppenhaus belauschte ich ein Gespräch zwischen Begonia und Lüt­zow. Der Stereoverstärker war infolge übertriebenen Ge­brauchs defekt, was sofortige Reparatur erheischte. Mit dem Gerät in der Einkaufstasche verließ Lützow das Haus. Wie gut, daß er einen Fachmann in der Nachbar­stadt kannte, mit dem er umzugehen wußte. Notfalls blieb er mit beleidigtem Gesicht so lange in der Werkstatt stehen, bis der Fachmann klein beigab und die Reparatur ausführte, nur um ihn loszuwerden. Begonia und ich waren auf unabsehbare Zeit allein. »Ich kann auch ohne dich in der Sonne liegen«, hatte sie zu Lützow gesagt.
  Und da lag sie nun. Sofort holte ich eine auf Keilrah­men gespannte Leinwand und Acrylfarben in Lützows Zimmer mit dem Gartenblick. Binnen einer Viertel­stunde schuf ich einen genialischen weiblichen Akt von höchster Expressivität. Begonia war an ihrer Sonnen­brille eindeutig zu erkennen. Nach Vollendung der Arbeit lief ich mit dem Bild zuerst in die Küche und dann hinaus in den Garten. Es gab kein Zurück mehr. Mit dem Gemälde, einer Flasche Markensekt und zwei Gläsern warf ich mich Begonia zu Füßen.
  Am Abend, als Lützow zurückkehrte, war zwar sein Stereoverstärker wieder ganz, doch seine Liebschaft hin­fällig. Die treulose Sängerin und ich waren zu ihr nach Hause übersiedelt. Ein Bett, einen Kühlschrank und einen Fernsehapparat gab es dort auch. Vor Zorn wird Lützow das frisch reparierte Gerät wohl an die Wand geworfen haben.
  Weil Theaterferien in der Provinz, zumal ohne Mög­lichkeit der Gartenbenutzung, so langweilig sind, schlug Begonia nach ein paar Tagen vor, zu ihrer Familie in die Toskana zu fahren. Begonia besaß ja einen schnittigen Kleinwagen (geschenkt ist geschenkt), damit ließ sich ganz gemütlich reisen.
  Kurz vor München rückte Begonia damit heraus, daß sie ein Kind habe. Es sei in einem Münchner Vorort bei guten Menschen untergebracht, und sie wolle es ihrer Familie nicht länger vorenthalten. Ob ich nicht den Vater spielen wolle? Ich mimte den Verständnisvollen, bis ich das Kind, Graziella, kennenlernte. Sie warf diverse Ge­genstände nach mir. Wenn sie nichts warf, schrie sie be­stialisch. In der Nähe von Innsbruck war der Ofen aus. Entwurzelt stand ich mit meiner Reisetasche auf dem Trottoir vor einer Eisdiele. Begonia war wutentbrannt auf Nimmerwiedersehen mit ihrem Töchterchen in Rich­tung Heimat davongebraust, nachdem der Ersatz-Papa der lieben Graziella in Notwehr eine geklebt hatte. Lange war ich damit beschäftigt, Eis und Sahne aus meinem Gesicht zu wischen. Die Frisur hatte sehr gelitten.
  Ich war noch nie ein geschickter Taktiker gewesen, deshalb beging ich in meiner desolaten Lage die Torheit, ausgerechnet Lützows anzurufen. Anneliese war nicht einmal gewillt, mit mir zu reden. Wie Herr Lützow sich ausdrückte, waren sie Leute von Format, die so was wie mich nicht nötig hätten, wo sie demnächst doch ein Kind miteinander haben würden. Ich solle mich seinetwegen umbringen.
  Da stand ich also vor dem Nichts, glücklicherweise aber nur für Minuten. Wie ich so dastand, erweckte ich das Mitleid einer jungen Frau von angenehmem Wesen. Trotz meiner ruinierten Frisur nahm sie mich mit in ihr Häuschen am Rande der Stadt. Im Obergeschoß des Häus­chens fand ich ideale Verhältnisse für ein Atelier vor. Das freute meine Gastgeberin, und beim ersten Fachgeschäft am Platze kaufte sie schnellstens Kunstmalbedarf für mich.
  Aber als Maler war ich, wie eingangs erwähnt, am Ende. Meist hielt ich mich im Parterre auf, wo der Gatte meiner Gönnerin wohnte und jeden Mittwochabend Orgien mit begeisterungsfähigen Politessen feierte.


© Eugen Egner