Nur keine Ordnung ist eine Ordnung

„Chaosmos“ - Die Wuppertaler Uraufführung jetzt im Film

von Johannes Vesper

Foto © Konrad Kästner

„Nur keine Ordnung ist eine Ordnung“
 
„Chaosmos“ - Die Wuppertaler Uraufführung jetzt im Film
 
Von Johannes Vesper
 
Von der Corona-Jahrhundertpandemie sind Kunst und Kultur in besonderer Weise betroffen. Auf Theater und Konzerte glaubt man aus Gründen des Infektionsschutzes verzichten zu müssen. Da paßt es in die Zeit, daß das Musiktheater in virtuell-digitale Spielstätten ausweicht. Jetzt war auf www.nachtkritik.de „Chaosmos“ zu erleben, uraufgeführt im Januar 2020 im Barmer Opernhaus. Das Projekt wird im Untertitel „Oper“ genannt.
 
Zeitgenössisches, lebendiges Musiktheater pflegt die Oper Wuppertal unter ihrem Intendanten Bertold Schneider mit besonderem Interesse (u.a. „Labyrinth“ (Jonathan Dove) mit 250 DarstellerInnen auf der Bühne „Europeras“  (Cage), „Surrogate Cities/Götterdämmerung“ (Heiner Goebbels/Richard Wagner), „Three Tales“ (Steve Reich, Beryl Karoz)). Sehr erfolgreich gelang es mit diesem partizipativen Programm, auch theaterfernes Publikum zu begeistern.
 
Da erschien es nur konsequent, sich für das Projekt „Noperas“ des FONDS EXPERIMENTELLES MUSIKTHEATER zu bewerben, mit dem das NRW Kultursekretariat und die Kunststiftung NRW aktuelles Musiktheater hier unterstützt. Kultur tut not! Und wie! Erst recht in Coronazeiten! Fordern doch aktuell die Kultursekretariate NRW von Angela Merkel einen Rettungsschirm für die schwer erschütterte und in ihrer Existenz bedrohte Kultur. Aber zurück zu Chaosmos: Die Opern Wuppertal, Bremen und Halle hatten die Ausschreibung und damit 200.000 € gewonnen. Geplant war, daß für drei Jahre dieser Verbund in jeder Spielzeit gemeinsam ein Projekt durchführt, welches in den drei Häusern in jeweils unterschiedlicher Form zu sehen sein sollte. Zu Beginn dieser Zusammenarbeit entstand so in Wuppertal „Chaosmos“, eine „Oper“ von Marc Sinan (Komposition), Konrad Kästner(Regie, Video), Tobias Rausch (Texte), Johannes Pell (Musikalische Leitung), bei der das Publikum mit bestimmt, in welcher Reihenfolge die jeweils kurzen musikalischen Sequenzen gespielt werden. Das Stück wurde für Wuppertal entwickelt, sollte dann für Bremen und Halle jeweils weiterentwickelt werden, wenn Corona nicht einen Strich dadurch gemacht hätte. Als Ersatz interpretierten jetzt die Autoren des Stückes, entsprechend dem Kooperationsgedanken mit Beteiligten der Wuppertaler Uraufführung, Sängern und Sängerinnen des Halleschen Opernensembles und einem Gabelstapler, die Welt im Film. Durch diese virtuell-digitale Weiterentwicklung des Projekts erhofft man sich, daß so ein Stück nicht direkt nach der Uraufführung der Vergessenskultur anheimfällt.
 

Foto © Konrad Kästner

Für Chaos und Ordnung steht ein riesiges Logistikzentrum. Hier scannen und sortieren Jay und Joe, beide mit stattlichem Haarzopf, über Rutschen ankommende Pakete und befördern sie mit dem Gabelstapler weiter. Ohne Scanner sind sie blind, wenn sie Ordnung von Chaos, Sinn von Wahnsinn zu trennen versuchen. Zunächst fließt hier die Arbeit dank Ehrenkodex und Ethik, worauf man sich im Unternehmen stolz beruft, ordentlich und munter fort, bis die beiden neugierig ein Paket aus Dänemark öffnen. Sofort taumelt dieser Kosmos an die Schwelle zum nicht mehr beherrschbaren Chaos, hier im Gegensatz zu Moses 1 wüst und voll. Mit Hilfe projizierter Zeichnungen und Bilder erklärt eine an E.T. erinnernde Figur das System des Botanikers Carl von Linné aus dem 18. Jahrhundert. Er hatte mit Hilfe klarer Vorstellungen u.a. zu „natürlicher“ Sexualität Ordnung in den „Saustall der Natur“ gebracht, eine große Aufgabe, wenn Homo sapiens masturbiert und Hosianna verfickt wird! Wie Linné das Pflanzenreich, schufen die Kolonialmächte ehemals die Weltordnung durch Länderabgrenzung mit Zirkel und Lineal. Der 3. Binnenblick richtet sich auf die Erfindung des Malcolm Mc Lean. Nur mit seinen Seecontainern konnte Kriegsmaterial logistisch effizient nach Vietnam gebracht werden. Heute werden damit flüchtende Menschen nach Europa transportiert, die globalisierten Lieferketten der Welt bestückt. Diese Hüllen aus Metall für alles, was uns wichtig ist, haben für Chaosmos der Welt ähnliche Bedeutung wie Flugzeug und Internet.
 
Die zurückhaltende Musik wird synthetisch gemixt bzw. von wie bei Francis Bacon verzerrten Gesichtern und Köpfen musikalischer Androide von Bildschirmen herab gesungen, die von Körpern aus Metall und Drähten gesteuert werden. Grandioses Videomaterial fand sich schon in der Wuppertaler Aufführung, wurde aber für den Film noch erweitert.
 
Der klassische Opernfan kommt mit diesem Projekt nicht auf seine Kosten. Tragik, Liebe Leidenschaft, Gesang, alles, was unter die Haut geht, fehlen und die Zitate von J.S. Bach gegen Ende verfehlen ihre ursprüngliche musikalische Intention. Gibt es kunstimmanente Kriterien, die ein Werk zum Kunstwerk erheben? Heute scheint moralische Betroffenheit angesichts katastrophaler Weltprobleme als wichtige Kategorie und Voraussetzung akzeptiert zu werden. „Chaosmos“, mit Phantasie und großem Aufwand erstellt und auf die Bühne gebracht, ist alles andere als ein Vaudeville und regt mit aufregenden Bildern und Witz zum Nachdenken über uns und unser Leben in diesen Zeiten an.
 
Chaosmos – Der Film
Komposition:
Marc Sinan - Regie, Kamera, Montage und VFX: Konrad Kästner - Text: Tobias Rausch -  Ausstattung: Eylien König, Karina Ferg - Ton: Martin Müller, Karsten Lipp - Synthesizer: Oguz Büyükberber - Projektleitung: Eric Nikodym - Produktionsleitung: Michaela Dicu
Mit: Ulrike Langenbein, Rike Schuberty, Anke Berndt, Yulia Sokolik, Robert Sellier und Andreas Fischer
Premiere der Opernversion in Wuppertal am 11. Januar 2020.

Weitere Informationen: chaosmos.info - noperas.de - oper-wuppertal.de - theaterbremen.de -
  buehnen-halle.de