„Der goldene Schlüssel“

Die Sonderstellung eines Märchens der Brüder Grimm

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
„Der goldene Schlüssel“
 
Die Sonderstellung eines Märchens der Brüder Grimm
 
Von Heinz Rölleke
 
 
Die Große Ausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ erschien zu Lebzeiten der Brüder Grimm in sieben Auflagen. In jeder Auflage kam eine Anzahl neu entdeckter Märchen hinzu. Das Wachstum der Sammlung im Lauf von über vierzig Jahren zu beobachten, läßt viele interessante Aspekte erkennen. Im Einzelnen ist dieses Wachstum so zu verzeichnen: 1812/15 156 Texte, 1819 - 170, 1837 - 177, 1840 - 187, 1843 - 203, 1850 - 210, 1857 - 211. Die Grimms haben die Märchen von „1“ bis schließlich „200“ durchlaufend numeriert, die seit 1819 angehängten „Kinderlegenden“ ebenfalls (bis 1850 von 1 bis 9, dann von 1 bis 10). Es versteht sich fast von selbst, daß man die neuen Texte an die früheren anschloß und die bisherige Numerierung fortführte. Dabei gab es im Wesentlichen nur eine Ausnahme: Der Text der seit 1815 den Beschluß des zweiten Märchenbandes bildet, wurde nach den neu aufgenommenen Beiträgen konsequent immer wieder ans Ende gesetzt, so daß er in jeder Auflage eine andere Nummerierung trägt: 161 – 168 – 178 – 194 – 200 (diese von Wilhelm Grimm angestrebte Zahl, blieb auch in der Ausgabe letzter Hand als Teil der Überschrift erhalten, weil ein erst 1857 hinter der Nr. 151 neu aufgenommener Text die Numerierung 151* erhielt, um die Rundzahl nicht ändern zu müssen).
 
Mit dem „Goldenen Schlüssel“ muß es also wohl aus Sicht der Brüder Grimm eine besondere Bewandtnis haben, sonst hätten sie die kleine Geschichte nicht so beharrlich immer wieder als Ausklang der von ihnen gesammelten Märchen positioniert. Man sollte also einmal nach der Bedeutung dieser von den Grimms so hochgeschätzten Erzählung fragen.
 
           
 200.
 Der goldene Schlüssel.
 „Zur Winterszeit, als einmal ein tiefer Schnee lag, mußte ein armer Junge hinausgehen und Holz auf einem Schlitten holen. Wie er es nun zusammengebracht und aufgeladen hatte,    wollte er, weil er so erfroren war, noch nicht nach Haus gehen, sondern erst Feuer anmachen und sich ein bißchen wärmen. Da scharrte er den Schnee weg, und wie er so den Erdboden aufräumte, fand er einen kleinen goldenen Schlüssel. Nun glaubte er wo der Schlüssel wäre, müßte auch das Schloß dazu sein, grub in der Erde und fand ein eisernes Kästchen. 'Wenn der Schlüssel nur paßt!' dachte er, 'es sind gewiß kostbare Sachen in dem Kästchen.' Er suchte, aber es war kein   Schlüsselloch da, endlich entdeckte er eins, aber so klein daß man es kaum sehen konnte. Er probierte und der Schlüssel paßte glücklich. Da drehte er einmal herum, und nun müssen wir warten bis er vollends aufgeschlossen und den Deckel aufgemacht hat, dann werden wir erfahren was für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen.“
 
Nach einem ersten Eindruck fühlt sich wohl jeder Hörer oder Leser dieses Textes ent- und getäuscht: An der spannendsten Stelle bricht der Erzähler ab und gibt keine weiteren Auskünfte. Auf Grund des scheinbar fragmentarischen Charakters der Geschichte läßt er die Erwartung der Rezipienten offenbar gezielt ins Leere laufen. Eine Variation zu diesem unbefriedigenden Erzählschluß haben die Brüder Grimm mit dem Begriff „Vexiermärchen“ gekennzeichnet. So nennen sie nämlich in ihrer Anmerkung das Märchen „Der Fuchs und die Gänse“, mit dem immer der erste Band (der zu Lebzeiten der Brüder Grimm stets in zwei Bände unterteilten Großen Ausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“) beschlossen wurde, das also in ähnlicher Position steht und wohl auch mit ähnlicher Intention wie der Text vom „Goldenen Schlüssel“ am Ende des zweiten Bandes. Das „Fuchs“-Märchen (mit der Nr. 86) steuert zunächst scheinbar unausweichlich auf das Ende der vom Fuchs gefangenen Gänse zu. Die Gänse bitten um die vom Fuchs auch großzügig gewährte Möglichkeit zu einem letzten Gebet vor ihrem Ende:
 
            „Also fing die erste ein recht langes Gebet an, immer 'ga! ga!' und weil sie gar nicht aufhören wollte, wartete die zweite nicht, bis die Reihe an sie kam, sondern fing auch an 'ga! ga!' […] und bald gackerten sie alle zusammen. (Und wenn sie ausgebetet haben, soll das Märchen weiter erzählt werden, sie beten aber alleweile noch immer fort).“
 
Die Geschichte kommt zu keinem Abschluß. Es ist wie beim Abhören einer Schallplatte, bei der sich kurz vor dem Ende der Tonarm in einer Rille festsetzt, so daß es zu einer immerwährenden Wiederholung kommt.
Die Grimm'sche Charakterisierung der Geschichte als „Vexiermärchen“ ist insofern nicht ganz zutreffend, weil es zwar um ein Necken oder Anführen der Rezipienten geht, aber sich in der Geschichte von den Gänsen wie auch noch in der vom „Goldenen Schlüssel“ kaum märchenhafte Elemente finden. Es gibt jeweils die Andeutung eines Wunders, das für jedes genuine Märchen wesentlich ist, um es dieser literarischen Gattung zuordnen zu können, doch begegnen sprechende Tiere auch in der Fabel, und die vielleicht als Wunder zu wertende Entdeckung des Kästchens ist doch wohl eher als ein im realen Bereich anzusiedelnder Zufall anzusehen.
 
Immerhin sind das Fehlen von genaueren Orts- und Zeitangaben sowie der Wald als Schauplatz als märchenhafte Elemente zu werten, vermissen wird man aber unter anderen die im Märchen üblichen Konflikte oder Prüfungen, das obligatorische Happyend sowie vor allem ein 'echtes' Wunder. Auf die hier genannten Texte paßt eher die Etikettierung „Neckmärchen“, da es hauptsächlich darum geht, die Erwartung des Rezipienten gezielt zu täuschen, denn die Geschichten erweisen sich unerwartet als Fragmente, und die Erwartungen an ein Märchen erfüllen sie nur in Ansätzen.
 
Warum haben die Brüder Grimm die beiden Texte geradezu eigensinnig in allen Auflagen ihres Märchenbuchs jeweils prononciert ans Ende der beiden Bände plaziert? „Der Fuchs und die Gänse“ mit seinem offenen und gleichsam endlosen Ende soll wohl die Lust der Rezipienten auf weitere Märchen wecken, die damit auf den Folgeband der „Kinder- und Hausmärchen“ gewiesen werden. Das Finale der Geschichte vom „Goldenen Schlüssel“ soll hingegen die im Text selbst nicht befriedigte Neugier wecken und sie offenbar anregen, sich über den Inhalt des Kästchens Gedanken zu machen. Ergebnisse solcher Vorstellungen können nur im Bereich der Phantasie gewonnen werden.
 
So dürfte der Weg zur Deutung der Geschichte gewiesen sein und damit zugleich zur Beantwortung der Frage, warum die Brüder Grimm sie für besonders wertvoll hielten.
 
„Der Fuchs und die Gänse“ am Ende des ersten Bandes der Märchen will zum Weiterlesen anregen; hier geht es um das weiterführende Nachdenken oder Nachforschen. Vereinfacht könnte man sagen: Der den ersten Band beschließende Text fordert zur Fortsetzung der Lektüre im zweiten Band auf, während die die ganze Sammlung abschließende Geschichte ein erneutes Lesen aller Märchen empfiehlt.
 
Die Geschichte vom „Goldenen Schlüssel“ beginnt verheißungsvoll: Ein armer Junge, frierend im Winterwald, läßt auf guten Fort- und Ausgang der Geschichte mit einem märchengerechten Happyend schließen. Diese Erwartung scheint sich zu erfüllen, denn ganz überraschend macht der Junge mit dem goldenen Schlüssel einen Fund, der nach der Lesererfahrung eine übernatürliche Gabe erwarten läßt. Diese fällt ihm nicht in den Schoß: Er muß mit Ausdauer versuchen, das zugehörige Kästchen und vor allem dessen kaum sichtbares Schlüsselloch zu entdecken. Das heißt, der Zugang zum Fund, zur Identifizierung und vor allem zur Bedeutung des zu erwartenden Schatzes scheint zunächst aussichtslos und erweist sich dann als mühevoll. Schlüssel sind in Grimms Märchen die Türöffner für Kostbares, aber meist auch Geheimnisvolles. Hier bleibt das Geheimnis gewahrt. Man erlebt zwar das Öffnen des Kästchens, aber was der Junge sieht, wird nicht mehr erzählt. Also müssen die Rezipienten sich ausmalen, was für „wunderbare Sachen“ zu bestaunen sind. Die Plazierung in der Grimm'schen Sammlung macht es mehr als nur wahrscheinlich, daß damit die – wie die Schätze im Kästchen - in einem Buch versammelten Märchen selbst gemeint sind. Darauf läßt auch de dezente Hinweis auf „Wunder“-Geschichten schließen: Es sind eben „wunderbare“ Sachen im Kästchen wie im Märchenbuch versammelt. Die Allegorie würde sich dann wie folgt auflösen: Der Weg zu den Märchen ist oft durch unerwartete Zufälle bestimmt. Um den Wert des glücklich Gefundenen erkennen und ermessen zu können, bedarf es eines Schlüssels, dessen Gold zeigt, daß es um Wichtiges und Kostbares geht. Den Zugang zu den im Kästchen verborgenen und fest verschlossenen Märchen kann man finden, wenn man sich, wie der Junge, Mühe macht. Nun liegen die Schätze (wie in den beiden Bänden der zu Ende gelesenen Grimm'schen Märchen) da, aber man ist jetzt aufgefordert, sich damit weiter zu beschäftigen, indem man nach ihrer Bedeutung im Allgemeinen und für den Rezipienten im Besonderen fragt. Die Antworten werden fast so vielfältig und unterschiedlich sein wie die Leser. Das sagt auch: Märchen lassen sich nicht auf eine einzige Deutung festlegen, selbst wenn man sie anscheinend zutreffend 'entschlüsselt' hat. Sie behalten letztlich ihr Geheimnis und locken fortwährend zu dessen Enträtselung: Man wird sie wieder und wieder lesen und zu immer neuen und tiefer dringenden Erkenntnissen finden, weil die 'richtige' Ausdeutung dieser Geschichten je nach Leser und seiner Auffassungsgabe sozusagen ein Leben lang immer wieder changieren wird: Für den kindlichen Rezipienten haben die Geschichten eine andere Bedeutung als für den erwachsen oder alt gewordenen Leser, obwohl es dieselben Texte sind. Märchen bleiben geheimnisvoll und auch darum wirken sie durch die Jahrhunderte immer faszinierend. Und die Grimms wollen wohl sagen: Sie sind und bleiben unbedingt lesenswert – und in dieser Auffassung können sie sich auch durch den nun schon über zweihundert Jahren weltweit andauernden Erfolg, eines der meist aufgelegten und meistübersetzten Bücher der Weltliteratur geschaffen zu haben, uneingeschränkt bestätigt fühlen.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020