So war es wirklich

Ian Mortimer – „Shakespeares Welt“

von Robert Sernatini

So war es wirklich
 
Ein (be)greifbares Bild von Shakespeares Zeit
 
Können wir uns eigentlich wirklich vorstellen, wie Menschen vor 450 Jahren gelebt haben? Nun gut, es gibt zahllose Geschichtsbücher, die uns von Königreichen und Regenten berichten, Zeugnis von Thronfolge-Kriegen ablegen und – zu meiner Zeit in der Schule besonders beliebt – Jahreszahlen von Schlachten und Regierungszeiten aneinanderreihen. Aber wie hat man damals gelebt? Wie verbrachten die Menschen ihre Tage, was aßen und tranken sie, wie waren sie gekleidet, was haben sie geglaubt, welche Krankheiten haben sie geplagt und wie waren die sozialen Verhältnisse?
„Die Zeit von Shakespeare und Königin Elisabeth I. gilt als „goldenes Zeitalter“, schreibt der Piper Verlag in seinem Klappentext zu Ian Mortimers neuem Buch über das Leben des 16. an der Schwelle zum 17. Jahrhundert. Und weiter „…die damalige Zeit war nicht bloß geprägt durch meisterhafte Lyrik und höfischen Überfluß, auch Krankheiten, Hungersnöte, Gewalt und Sexismus bestimmten den Alltag.“
 
Dem geht Ian Mortimer in seinem fesselnden Buch „Shakespeares Welt“ nach und findet einen anderen, griffigen Weg, ein Fenster zur Wirklichkeit der Zeit William Shakespeares (1564 – 1616) und Königin Elisabeth I. (1558 bis 1603) zu öffnen. Er hat historische Quellen zu Geographie, Sozialwesen, Finanzen, Religion, Mode, Hygiene, Ernährung, Recht und Gesetz, Sprache, Freizeit und Alltag schlechthin durchforstet und breitet auf 440 Seiten + 55 Seiten Anmerkungen und Register ein Panorama dieser Zeit aus, in der Shakespeare seine Königsdramen und Komödien schrieb, während Pest, Syphilis und Pocken, stinkende Abtritte, Fäkalien auf den Straßen und Gassen, Ratten, Flöhe, Wanzen und Läuse den Menschen zusetzten. Er schafft es, ein Bild der englischen Gesellschaft aller Schichten zu zeichnen, wie es im folgenden Jahrhundert James Boswell und Samuel Pepys getan haben.
 
Gewaltig ist das Gefälle zwischen Arm und Reich in der streng hierarchisch gegliederten Gesellschaft, was gleichbedeutend mit Adel und arbeitender Bevölkerung ist, kaum anders als heute zwischen Krankenpflegern und Geld/Sportadel, was die finanziellen Unterschiede angeht. Dem Adel gehört alles, auch das Recht, so werden bescheidene Häuser, manchmal ganze Dörfer niedergerissen, um Platz für die Parks des Adels zu schaffen.
Im Kapitel „Was sie essen und trinken“ bekommt man einen Eindruck davon, wie maßlos der Adel schlemmte und mit wie wenig ein armer Haushalt auszukommen hatte. Die einen warfen mit goldenen Sovereigns um sich, andere mußten für vier Pence am Tag hart arbeiten, und noch immer verhungerten Menschen vor den Augen anderer auf den Straßen.
Menschen wurden für bestimmte Formen der Häresie bei lebendigem Leibe verbrannt, und Frauen landen auf dem Scheiterhaufen, wenn sie ihre Ehemänner getötet haben. Die langsam verwesenden Köpfe von Verrätern wurden über den Stadttoren Londons zur Schau gestellt und sollen Nachahmer abschrecken.
Abschreckend ist auch das Verständnis von Krankheiten, „Körpersäften“, deren Diagnose und  „medizinischer“ Behandlung, obwohl man schon ahnte, welche Bedeutung gute Luft hat. Der Zeitreisende fühlt den dringenden Wunsch, damals um Himmels willen nicht krank gewesen zu sein! Übrigens entsprechen die Zahlen der Seuchentoten im Jahr 1603 ungefähr der Zahl derer, die 2020 in England durch Corona zu Tode kamen. Zugegeben, eine Milchmädchenrechnung, gemessen an den tatsächlichen Bevölkerungszahlen…

Eine höchst informative, brillant recherchierte, aber auch kurzweilige, weil ungemein unterhaltsam erzählte Lektüre, die das England des 16. Jahrhunderts in hervorragenden Bildern, auch mit 37 zeitgenössischen Illustrationen vorstellt. So macht Geschichte wirklich Spaß. Das weckt unmittelbar Hunger nach weiteren Zeitreisen aus der Feder Ian Mortimers. Von den Musenblättern sehr empfohlen und mit ihrem Prädikat, dem Musenkuß ausgezeichnet.
 
Ian Mortimer – „Shakespeares Welt“
So lebten, liebten und litten die Menschen im 16. Jahrhundert
Aus dem Englischen von Karin Schuler
© 2020 Piper Verlag, 495 Seiten, gebunden, Schutzumschlag, Illustrationen, Anmerkungen, Register - ISBN:  978-3-492-05943-5
25,00 € [D], 25,70  € [A]
 
Weitere Informationen: www.piper.de