Was alles wir der chinesischen Fledermaus verdanken

Aus meinem Corona-Logbuch, Folge 10

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Ryszard Kopczynski
Michael Zeller
 
Was alles wir der chinesischen Fledermaus verdanken
 
Corona-Logbuch Folge 10
 

Alles lost?
 
Es ist Herbst geworden. Immer noch sind die Temperaturen mild genug, um über Mittag eine Viertelstunde draußen in der dünnen Sonne sitzen zu können. Doch die Zeiten, da sich Veranstaltungen im Freien abhalten ließen, Lesungen, Konzerte, die gesamte Gastronomie - diese Zeiten sind passé, endgültig. Für dieses Jahr zumindest. Ob es allein daran liegt, an der Vertreibung unserer Aktivitäten in geschlossene Räume, daß die Corona-Zahlen  in die Höhe geschossen sind wie noch nie, auch zu Beginn der Pandemie nicht? Die Sorge im Land ist groß, auf allen Seiten, daß die Seuche außer Kontrolle zu geraten droht.
Die Kanzlerin bestellt sämtliche Ministerpräsidenten nach Berlin ein. Bei der abschließenden Pressekonferenz, spät am Abend, steht in den Gesichtern der Politiker eine Betroffenheit geschrieben, ja ein Erschrecken, das ihnen selbst der größte Skeptiker abnehmen muß. Die Angst vor einem neuerlichen Herabfahren unserer Volkswirtschaft gegen Null ist mit Händen zu greifen. Dabei geriete unser aller Wohlstand in dringende Gefahr. 
Es werden Einschränkungen beschlossen, die den Alltag von uns allen empfindlich treffen werden. Und auch damit wären wir keineswegs auf der sicheren Seite.
Mit diesen Spätnachrichten im Kopf ist mein Schlaf entsprechend unruhig. Da trifft mich gleich nach dem Aufwachen aus dem Radio der nächste Tiefschlag. Irgendein Gremium hat in einer Internetumfrage das „Jugendwort des Jahres“ ermittelt. 48 Prozent der befragten Jugendlichen haben sich für das Adjektiv lost entschieden. Auch auf den nächsten Plätzen liegen ebenfalls englische Wörter. Der dritte Platz gebührt wild, wobei das Wort keineswegs - Gott/Göttin bewahre! - /wild/ auszusprechen ist, sondern naturgemäß /waild/.

Corona ist also nicht die einzige Seuche, die in dieser Gesellschaft grassiert. Auch unsere Sprache ist befallen. Doch dagegen werden keine Konferenzen einberufen, nirgendwo zeigt sich ein Drosten oder Streeck, der mahnend seinen Finger hebt. Nur die Handvoll Schriftsteller dieses Landes müssen sich zu Wort melden, wenn sie welche sein wollen.
Die Schriftstellerei ist mein Beruf, das heißt: mein Broterwerb. Die eigene Sprache, in die mich ein Schicksal hineingeboren hat, ist mein Material und Handwerkszeug in einem, mit dem ich arbeite, seit ich denken kann. Und ich bin nur einer, in einer unendlich langen Kette von Schreibern (da spielt’s keine Rolle, ob Männlein oder Weiblein), die die Verantwortung dafür tragen, daß diese Sprache weiterlebt. Daß auch in hundert Jahren noch die Verse des Walter von der Vogelweide oder Hölderlin (oder, mit Verlaub, meine), die Gedanken von Luther, Kant und Hegel (oder Andreas Steffens) verstanden werden können - im Original, wohl gemerkt -, und nicht lost gehen in selbst zusammengefummeltem Vorschul-Englisch, das niemand auf der Welt sonst spricht außer den Deutschen. 
lost heißt verloren, und gern rufe ich eines der frühesten deutschen Liebesgedichte auf (sprachlich leicht angepaßt). Vor über achthundert Jahren ist es gedichtet worden, über die Liebe zwischen zwei Menschen, die niemals verloren gehen darf.

Du bist mein, ich bin dein:
dessen sollst du sicher sein.
Du bist eingeschlossen
in meinem Herzen:
Verloren ist das Schlüsselchen
Du mußt immer drin bleiben.
 
Verliert mir das Schlüsselchen zur deutschen Sprache nicht, Freunde und Freundinnen! Das ist ein Schatz, der größer und reicher und wertvoller ist als wir alle zusammen. 
 
 
© 2020 Michael Zeller