Über unser ausgleichendes Wesen

von Erwin Grosche

Foto © Harald Morsch
Über unser ausgleichendes Wesen
 
Der Paderborner ist bekannt für sein ausgleichendes Wesen. Er kennt die zwei Seiten der Medaille und daß man nur mit Wasser kochen kann, wenn der Herd an ist. Wenn ein Paderborner über dauernden Regen klagt, dann mildert ein anderer die Aussage ab: „Der Boden freut sich.“ Begrüßt ein Paderborner den heimkehrenden Urlauber mit den Worten: „Du bist aber im Urlaub braun geworden“, dann hält der andere dagegen: „Aber mein Auto ist kaputt.“ Wir weigern uns, den Eindruck vollkommenes Glückes zu hinterlassen, um das Schicksal nicht herauszufordern. Wenn man zum Beispiel einen Paderborner Politiker lobt, daß man ihn ganz oft in der Zeitung gesehen hat, dann kontert er bescheiden: „Meine Frau hat es im Rücken.“ Laßt uns bloß nicht den Eindruck erwecken, es ginge uns gut. Die erste Todsünde ist der Hochmut und die zweite die Habgier. Das Glück ist schlicht. Es hat mit Müh` und Not den Hauptschulabschluß geschafft und übersieht oft den, der es verdient hat. Kann sein, daß deshalb auch der SC Paderborn abgestiegen ist, kann sein, daß wir deshalb nur einen Schuhkarton als Stadthaus bauen. Wir wollen den Preis dafür zahlen, daß es uns so gut geht. Wenn man in diesen Tagen einem Vertreter der katholischen Kirche vorhält, daß nur noch so wenige Männer Priester werden wollen, kann dieser erleichtert erwidern, daß nicht mehr so viel Gläubige in die Kirche kommen. Schon steht es 1:1. Das ist eine Win-win-Situation, eine Er-win-Situation. Ich habe jetzt einen Nachbarn gelobt, weil er so eine junge und schöne Frau hat, aber da spielte er das gleich herunter und klagte: „Dafür besucht mich auch jedes Wochenende meine Schwiegermutter.“ Verstehen sie, sonst denkt das Glück noch, der wurde aber reich beschenkt, der hat ja nicht nur eine junge, sondern auch eine schöne Frau, den lassen wir zum Ausgleich früh sterben. Aber dann fällt dem Glück ein, daß der Glückspilz jedes Wochenende seine Schwiegermutter bei sich hocken hat, und das ist ja auch wie ein früher Tod. So sind alle zufrieden. Ich denke oft an Mozart, der himmlische Melodien schreiben konnte, aber unter Koprolalie litt, also dem zwanghaften Gebrauch von Fäkalausdrücken. „Scheiße, ist das schön“, dachte er beim Komponieren des Requiems. Ein höflicher Mozart, der uns mit seinen Melodien unsere Unzulänglichkeiten vorführt, wäre kaum zu ertragen gewesen. So ist Gott. So bleiben alle auf dem Boden. Warum er von Bayern München nur einen vollkommenen Eindruck hinterläßt, weiß man nicht. So ist der Club gerade mal durch unseren Haß zu ertragen. Und wenn sich jemand beklagt: „Dein ausgleichendes Wesen geht mir total auf den Zeiger“, dann kontern wir: „Und dafür liebe ich dich.“ Wie sagt man in der Stadtheide: „Auch der Porschefahrer findet keinen Parkplatz, nur schneller.“
 
© 2020 Erwin Grosche