Eine sehnsüchtige Utopie

Anja Liedtke – „Stern über Europa“

von Frank Becker

Eine sehnsüchtige Utopie
 
Im Hamsterrad
…und der mögliche Weg heraus
 
Nur Träumer werden die Sterne erreichen.
Vor der dramatischen Kulisse der Weltwirtschafts- und Finanzkrise 2007/08 und den ökologisch katastrophalen diktatorischen Baumaßnahmen Putins zur Ermöglichung von olympischen Winterspielen im subtropischen Sotschi am Schwarzen Meer entwickelt Anja Liedtke ihren fesselnden, vielschichtigen Roman „Stern über Europa“. Die ambitionierte  Reise-Journalistin Hanna Kiel hat sich von ihrem Blatt den Auftrag für eine Reportage über einen der letzten Veteranen des spanischen Syndikalismus der Vor-Franco-Zeit zusichern lassen. Gemeinsam mit ihrem Stamm-Fotografen Jens macht sie sich im marokkanischen Atlas-Gebirge auf die nicht ungefährliche Suche nach dem als verschollen geltenden Pablo Aventura, findet ihn und zu einer Weltsicht, die im gut 80 Jahre vergangenen spanischen basis-ökologischen Syndikalismus wurzelt, der anscheinend die Idealform menschlichen Miteinanders verkörpert.
 
       Der vor der Wucht der angeschnittenen globalen Probleme schmal wirkende Roman birgt jedoch enorme Kraft, mit deren Hilfe auch kurz angerissene Themen kraftvoll aufleuchten: Kapitalismus im postsowjetischen russischen System, das Ersticken der Welt in der Garotte der unkontrollierten Marktwirtschaft, die drohende vollständige Aufteilung der Welt unter Öl-, Automobil-, Pharma- und Gentechnik-Giganten (der vom deutschen Bayer-Konzern gekaufte Saatgut und Dünger-Riese Monsanto wird explizit genannt) und nicht zuletzt der davon nicht trennbaren internationalen Pressemoral. Daß die sogenannte Globalisierung nichts weiter ist als ein Konglomerat der Wirtschaft, anstatt ein Solidarzusammenschluß der Zivilgesellschaft zu sein, kann in seiner deutlichen Erwähnung als Aufforderung zum Umdenken angesehen werden. 
Anja Liedtke zitiert Bakunin und Lenin, beruft sich auf Hemingway und Orwell. Nicht von Ungefähr gibt sie einer zentralen Person ihrer ökologisch-humanen Sotschi-Utopie den Namen Kropotkin und wirft mit der Erwähnung der Ermordung von Bankiers, Arbeitgeberpräsidenten und Konzernchefs im Deutschen Herbst der 1970er Jahre ein Schlaglicht auch auf die schrecklichen Folgen fehlgeleiteter Widerstandsgedanken.
 
Atmosphärisch dicht, komplex, mit brillanten Szenen- und Lokalwechseln, fesselnden Gedankengängen, Dialogen von Tiefe und Ernsthaftigkeit sowie faszinierenden Charakterskizzen wie der des Pablo Aventura erzählt Anja Liedtke mit greif-, fühl- und riechbaren Bildern diesen Traum von einem besseren Leben. Daß ihre Protagonistin Hanna wie ihr Kollege Jens und die jeweiligen Partner zu Hause dabei durch alle Tiefen von Sorge, Zweifel, Entscheidungen und Neufindung ihrer Lebens-Architektur gehen müssen, sättigt auch den Wunsch des Lesers nach der persönlichen, seelischen Komponente des Romans. Sie beweist dabei auch, daß Andeutungen oft mehr erzählen können als breitflächige Epik.
„Stern über Europa“ ist eine lockende, schillernde Utopie, zugleich ein Fanal der Sehnsucht nach einer ehrlichen, gerechten Welt und ein Weckruf zur strikt ökologischen Nutzung von Land, Wasser und Sonne – vor allem aber ein Plädoyer für globale Solidarität, Menschenliebe, Augenhöhe und Würde. Eine Empfehlung der Musenblätter.
 
Anja Liedtke – „Stern über Europa“
© 2020 asso Verlag, 252 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag – ISBN: 978-3-938834-65-7
19,90 €
Weitere Informationen:  www.assoverlag.de  -  www.anja-liedtke.de/