„Davon glaube ich kein Wort!“

David Hilbert in der Anekdote

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
„Davon glaube ich kein Wort!“
 
David Hilbert in der Anekdote

 Von Ernst Peter Fischer

 
In Hilberts Hotel
 
David Hilbert stammt aus Ostpreußen und zu seinen besonders großen Auftritten in der Mathematik gehört ein Vortrag, den er im Jahre 1900 auf der internationalen Tagung von Mathematikern hielt, die zum Ende des alten oder Beginn des neuen Jahrhunderts in Paris abgehalten wurde. Bei seinem heute längst legendären Auftritt in der französischen Hauptstadt sprach Hilbert nicht weihevoll über das von seiner Zunft Erreichte, um sich dabei auf die eigene Schulter zu klopfen. Vielmehr stellte er sowohl den in Paris abwesenden als auch allen anderen und in der französischen Hauptstadt zur Jahrhundertwende abwesenden Kollegen die von ihnen noch zu lösenden Probleme oder offenen Beweise vor, und er forderte die Mathematiker der Welt auf, die Lücken zu schließen und die fehlenden Klarheiten zu liefern. Hilbert zeigte sich überzeugt, „In der Mathematik gibt es kein Ignorabimus“, und wer sein Grab in Göttingen besucht, wird auf dem dazugehörigen Stein Hilberts Überzeugung lesen können, „Wir müssen wissen, wir werden wissen.“
                Die Geschichte der Mathematik, die nach Hilbert kam, hat seinen Traum von der vollständigen Beweisbarkeit aller Behauptungen zwar platzen lassen – 1931 hat der aus Österreich stammende Logiker Kurt Gödel das aufstellen können, was heute als Theorem der Unvollständigkeit bekannt ist und das in einfachen, zugleich aber paradox klingenden Worten besagt, daß es wahre Sätze gibt, die sich nicht beweisen lassen, wobei mehr von Gödel zu lesen sein wird, den man auch den „Mozart der Mathematik“ genannt hat, wenn Albert Einstein an der Reihe ist, das die beiden als alte Herren gemeinsame Spaziergänge in Princeton, New Jersey machten.
                Hilberts Ruhm hat durch Gödel umwerfende Logik nicht gelitten, wobei die Verehrung für den Königsberger König der

David Hilbert
Mathematik und Geometrie auch mit seiner Bereitschaft zu tun hat, zum einen stets klare Positionen zu beziehen und zum zweiten die Mathematik auf den Markt zu tragen und ihre Erkenntnisse so auszudrücken, daß sie unmittelbar einleuchten und auch von dem berühmten und stets in solchen Fällen erwähnten Mann auf der Straße zu verstehen sind.
                Was die klare Positionierung angeht, so gab es in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts selbst in den Räumen einer Eliteuniversität wie Göttingen kaltherzige Vorurteile gegen Frauen, die man lieber in der Küche und bei den Kindern sah, und auf einer Fakultätssitzung wurde tatsächlich als Gegenargument für die Einstellung einer weiblichen Dozentin für Mathematik darauf hingewiesen, daß es für die Damen keinen eigenen Raum gebe. „Aber meine Herren“, hat Hilbert daraufhin gepoltert, „wir sind doch hier an einer Universität und nicht in einer Badeanstalt.“
                  Besonders angetan hatte es Hilbert die bedeutende Mathematikerin Emmy Noether, deren Aufnahme in die Göttinger Akademie der Wissenschaften aber trotz seiner Plädoyers nicht zustande kam, was Hilbert auf seine Kollegen schimpfen und ihn fragen ließ, „Wie viele bedeutende Menschen haben wir wirklich in den letzten Jahren gewählt?“ Seine Antwort lautete, „Nur null, nur null“, und er fügte hinzu, wenn man die Frauen auf das Kochen beschränken will, könnte es schon passieren, daß sie eines Tages überkochen. Und dann meinte er noch, zwar sei in der Mathematik viel von Ringen, Körpern und Vereinigungen die Rede, aber noch sei niemand auf die Idee gekommen, einen vollkommenen Körper dadurch zu definieren, daß er keinen Unterkörper aufweist.
                Was nun die Mathematik für den Markt angeht, so wunderte sich Hilbert zum Beispiel über die Frage, warum zwei benachbarte und ähnlich aussehende – und nur wenige hundert Meter aufsteigende – Hügel in der Landschaft um Göttingen „Die Gleichen“ heißen. Und seine Auskunft zu diesem Namen lautete, „Sie heißen die Gleichen, weil sie den gleichen Abstand voneinander haben.“ Mathematiker ticken etwas anders, wie man auch an dem Witz erkennt, in dem die Frage gestellt wird, was Wissenschaftler denken, wenn sie sehen, wie drei Leute in einen Aufzug einsteigen, aber vier wieder herauskommen. Physiker meinen dann, sie haben sich wohl verzählt, Biologen fragen sich, ob die Vermehrung so schnell vor sich gehen kann, und

Emmy Noether
Mathematiker werden sagen, „wenn jetzt einer reingeht, ist keiner mehr drin.“ 
                Um auf seine Weise zu demonstrieren, wie Mathematiker denken, stellte Hilbert die unter ihresgleichen verbreitete Neigung zu Existenzaussagen vor, die sich darin zeigt, daß es in ihren Reihen nicht immer so wichtig ist, die Lösung eines Problems zu finden, und es als viel verlockender gilt, den Nachweis zu führen, daß es überhaupt eine Lösung dafür gibt. Um ein Beispiel für solch eine Existenzaussage zu geben, ließ Hilbert seinen Blick durch den Saal schweifen, in dem er sprach, um dann zu sagen, „Unter denen, die in dieser Vorlesung sitzen, befindet sich einer, der die kleinste Anzahl von Haaren auf seinem Haupt trägt.“
                Zu den umstrittenen und schwierigen Themen der Mathematik gehörte damals wie schon früher und auch noch heute der Umgang mit unendlichen Größen oder Mengen. In der Unendlichkeit stecken merkwürdige Paradoxien, wie im ausgehenden Mittelalter zum Beispiel der Bischof Nikolaus von Kues feststellen mußte, als ihm beim Nachdenken über den Weltraum auffiel, daß der Kosmos in dem Moment, in dem er in Gedanken unendlich groß vorgestellt wird, keinen besonderen Mittelpunkt mehr hat, weil jeder Punkt dabei zum Zentrum werden und es selbst also keiner sein kann.
                Hilbert liebte es, die Merkwürdigkeit des Unendlichen mit Hilfe eines Hotels vorzustellen, dem unendlich viele Zimmer zur Verfügung stehen. Im Gegensatz zu einem gewöhnlichen Hotel mit endlich vielen Zimmern kann Hilberts Hotel nie voll besetzt sein. Denn immer dann, wenn neue Gäste anreisen, braucht man bloß die bereits eingetroffenen zu bitten, ein Zimmer weiter zu gehen und dort zu nächtigen, was letztlich sogar bedeutet, daß selbst bei unendlich vielen Gästen unendlich viele Zimmer frei bleiben.
 
 
© Ernst Peter Fischer