Jahr100Wissen

„Das bunte Glas zerstört den Haß“ – Der Geheimbund „Gläserne Kette“

von Uwe Blass

Christoph Grafe - Foto: Universität Wuppertal
Jahr100Wissen
 
Wir lernen aus der Geschichte nicht, was wir tun sollen.
Aber wir können aus ihr lernen, was wir bedenken müssen.
Das ist unendlich wichtig.
(Richard von Weizsäcker)
 
In der Reihe „Jahr100wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben.
 
„Das bunte Glas zerstört den Haß“ –
Der Geheimbund „Gläserne Kette“

Interview mit dem Architekten Prof. Dr.-Ing. Christoph Grafe
 
Der Architekt Bruno Taut errichtete 1914 bei der Werkbund-Ausstellung in Köln einen Pavillon, der die Möglichkeiten des Bauens mit Glas auslotete. „Das bunte Glas zerstört den Haß“ stand über dem Eingang. Während des bald darauffolgenden Krieges flüchtete sich Taut in Visionen einer gläsernen Baukunst, die ganze Länder überdecken und schließlich die Menschheit im Frieden vereinen sollte. Am 1. November 1919 vereinigte er eine kleine Gruppe radikaler Architekten und Künstler zum Geheimbund „Gläserne Kette“. Was war die Grundidee der „Gläsernen Kette“?
 
Grafe: Wie alle utopischen Ideen hat auch die Gläserne Kette einen historischen Hintergrund und eine Geschichte von Vorläufern. Das Experimentieren mit Glas als Baustoff fängt spätestens im 18. Jahrhundert an. Aber ganz entscheidend ist tatsächlich das Jahr 1851 und die erste große Weltausstellung in London, die eine Zäsur in der Wahrnehmung der Welt darstellte. Joseph Paxtons Crystal Palace war der erste wirklich große Glaspalast überhaupt; ein Gebäude, das in nur einigen Monaten im Londoner Hyde Park errichtet wurde und dessen Realisierung wegen der neuen Technologie des Konstruierens in Glas und Eisen möglich war – Stahl wurde erste einige Jahre später verfügbar- die gänzlich neue Möglichkeiten im Ingenieurbau schuf. Bruno Tauts Visionen sind ohne diesen, übrigens recht pragmatischen, Vorgänger kaum denkbar. Der Kristallpalast war ein Gebäude unermesslichen Ausmaßes, mehrere hundert Meter lang, in dem die ganze Welt ausgestellt wurde. Es gab vielfache Abbildungen von Kunstwerken aus allen Kontinenten. Die ganze Welt war in Abbildungen da, das Duplikat ist zu dem Zeitpunkt genau so gut wie das Original. Dieses Bild der globalen Verfügbarkeit ist eines der ganz entscheidenden kulturellen Bilder des 19. Jahrhunderts. In diesem Moment scheint die ganze Welt unter dem Einfluss eines westlichen Fortschrittdenkens und der Dominanz Europas erschließbar. Der Glaspalast hat also utopische Konnotationen, wenn auch unter dem Vorzeichen der Hegemonie der Kolonialmächte. Alles wird zusammengebracht und die Gegensätze und Konflikte, die Teil dieser weltumspannenden Ordnung sind, verschwinden.
Wenn also Taut 1919 die Idee dieses gläsernen Bauwerks, in dem die Welt vereint ist, wieder aufgreift, dann kommt dies nicht von ungefähr. Es kommt von dem Bild der Glasarchitektur, das sich weiterspannt in den großen Passagen des 19. Jahrhunderts. In Paris z.B. hat Walter Benjamin über eine Art zweite Stadt geschrieben, die neben und in der eigentlichen Stadt existiert, ein unendliches Interieur, in der man sich auch verlieren kann. Eine künstliche Umgebung, in der alle Widrigkeiten des Wetters ausgeschlossen sind, in der die Kontrolle des Klimas gegeben ist und in der das neue Material Glas und Stahl zum Ausdruck dominiert.
 
In den stürmischen Monaten der Revolution von 1918/19 entstand mit der „Gläsernen Kette“ eine Brieffreundschaft, an der Architekten und Künstler mit ähnlichen Vorstellungen teilnahmen und sich wechselseitig Skizzen ihrer fantastischen Baugedanken schickten. Wie kam dieser elitäre „Geheimbund Gläserne Kette“ zustande?
 
Grafe: Wir müssen davon ausgehen, daß diese Beziehungen schon vorher existierten. Neben seinem Bruder Max befinden sich auch eine Reihe von Personen im Umfeld Teil der Gläsernen Kette, unter anderen die jungen Architekten Wassili Luckhardt oder Hans Scharoun. Dies sind also biographische Verbindungen, die aus der gemeinsamen Erfahrung der Architekturausbildung, aus dem Arbeiten in bestimmten Büros entstehen konnten.
Man darf nicht vergessen, daß für die Architektur, als einer Disziplin, die sich im Kern mit der räumlichen Ordnung der Welt befasst, der erste Weltkrieg, vielleicht noch mehr als für andere Disziplinen, eine unglaubliche Zäsur darstellt. In der Periode von der Jahrhundertwende bis 1914 sehen wir in der Architektur eine evolutionäre Reformbewegung. Das ist auch die Umgebung, in der alle Beteiligten formiert und sozialisiert sind. Reformarchitektur spielte im wilhelminischen Kaiserreich eine entscheidende Rolle. Das aufstrebende Deutschland sah sich, nicht zu Unrecht, als Pioniernation in den Bereichen der Gestaltung, dem Städtebau und der Architektur. Der Krieg führt zu einer Zäsur: es gibt Brüche in den Biographien, gute Freunde kommen nicht aus dem Krieg zurück. Daß in Deutschland diese utopische, nicht mehr mit diesem evolutionären Denken verbundene Bewegung so besonders stark ist, kann unter anderem so erklärt werden. Aber es gibt eine Reihe von europäischen Ländern, in denen wir ähnliche Bewegungen sehen. Das sind u.a. die Sowjetunion, Italien und, wenn auch aus ganz anderen Gründen, Holland; Länder, die für die Ausformung der modernen Architektur eine entscheidende Rolle spielen. In diesem Feld muß man den Geheimbund der Gläsernen Kette sehen, der sich in einer relativ kurzen Zeit formiert und nicht von Dauer ist.
Die Ideen aus dieser Zeit jedoch inspirierten einen Teil der Avantgarde der 1920er Jahre. Vielleicht ist dies in der Entwicklung von Architekten wie Hugo Häring und Hans Scharoun noch sichtbarer als im späteren Werk von Bruno Taut selber. Wenn man sich anschaut, welche Ideen Scharoun bis in die 1970er Jahre bearbeitet, dann kann man Ideen aus dieser utopischen Periode erkennen. Das ist zum einen die Leichtigkeit des Bauwerks, und zum anderen eine komplexe nichtaxiale Ordnung. In der Berliner Philharmonie sieht man diese gebrochenen Perspektiven der Gläsernen Kette noch heute.
 
Max Taut, der Bruder des Gründers der „Gläsernen Kette“, Bruno Taut, sagte in einem späteren Interview: Damals hatten wir leere Taschen und deshalb die Köpfe voller Ideen. Heute haben wir Aufträge über Aufträge, aber keine Zeit mehr, ‚verrückte‘ Sachen zu denken. Löste sich die „Gläserne Kette“ auf, weil die Initiatoren durch Arbeitsaufträge in die reale Welt zurückkehrten?
 
Grafe: Für die Entwicklung von neuen Ideen in der Kunst und Architektur sind Zäsuren immer Schlüsselmomente, weil die gewöhnliche Produktion unterbrochen ist und man sich darauf besinnt, weswegen man Künstler oder Architekt geworden ist. Ein weiterer Punkt ist der, daß man sich heute kaum noch vorstellen kann, welche traumatische Situation 1918 herrschte. Welche Befindlichkeiten herrschten, nachdem man 1914 massiv unter `Hurra-Schreien´ in den Krieg gezogen war und dann feststellte, daß damit eine ganze Kultur zerstört war. Wir sehen, daß in der gesamten Kultur viele Künstler und Intellektuelle ihre Position radikal neu denken. Und dieses Neu-Denken, in einer Situation, in der wieder eine Normalität angestrebt wird, ist vielleicht auch eine Möglichkeit, das Trauma zu überwinden. Andererseits hat es in Deutschland relativ lange gedauert, bis sich die ökonomische Situation einigermaßen normalisierte. Die konkreten Bauaufträge die dann kamen, waren meist Aufträge für Wohnhäuser oder Bürogebäude. Und dann ist natürlich klar, daß Bauen auch immer etwas damit zu tun hat, daß die Rationalität des rechten Winkels zurückkehrt. Diese andere Architektur sieht dann weniger verrückt aus und ist viel deutlicher eingebunden in die sozialen Praktiken des Alltags, der „Normalität“. Bei einzelnen Architekten wie Scharoun oder Häring sehen wir aber, daß dieser Impuls der Gläsernen Kette erhalten bleibt, während Taut selber häufiger wieder eher einfache Architektur konzipiert.
 
Der Vorentwurf für das neue historische Zentrum in Wuppertal ist ein flaches Glasgebäude mit Treppenturm, welches sich zwischen die Kannegießersche Fabrik sowie das Engelshaus fügt, welches bis zum Engelsjahr 2020 fertiggestellt sein soll. Ist das die gläserne Baukunst des 21. Jahrhunderts?
 
Grafe: Ich würde eher die Frage stellen, ob die Baukunst des 21. Jahrhunderts noch aus Stahl und Glas ist. Stahl und Glas waren die Zukunftsmaterialien des 19. Jahrhunderts, die von der Avantgarde der zwanziger Jahre gefeiert wurden. Diese Idee, daß Transparenz Modernität repräsentiert und damit auch Befreiung herstellt, ist eine Idee des 20. Jahrhunderts. Im Zeitalter einer totalen, digitalen, Sichtbarkeit auch der privaten Bereiche hat der Begriff Transparenz eine ganz andere Bedeutung als vor 50 Jahren, und ist zunehmend negativ besetzt. Die Architektur von Stahl und Glas ist heute die Sprache des internationalen Finanzkapitalismus, und das emanzipatorische Potential der Glasarchitektur ist im 20. Jahrhundert völlig aufgebraucht worden. Der Gedankengang, daß die Menschheit, in transparenten, gläsernen Gebäuden eine befreite Existenz führen wird, ist nicht aufrecht zu erhalten. Die Wirklichkeit ist anders.
Wir brauchen heute eine Architektur, die sich viel besser anpassen läßt als die Gebäude aus Stahl und Glas. Andere Materialien und Ästhetiken sind heute wichtiger. Dazu gehört auch, daß der Bruch mit der Vergangenheit, der eine Reaktion auf den Ersten Weltkrieg war, seine Bedeutung verloren hat. In einer Welt, deren Ressourcen endlich sind ist eine Architektur der Kontinuität und des Kompromisses eine nachhaltigere Vision. Die Idee, daß Menschen sich ständig völlig neu erfinden sollen, halte ich für eine destruktive und auch altmodische Haltung. Im Grunde ist es ganz wichtig, daß wir verstehen, woher wir kommen und wo wir auch in dieser komplexen gesellschaftlichen und kulturellen Situation, in der wir leben, hinwollen. Wenn wir die verschiedenen Lebensentwürfe von Menschen in einer sehr diversen Gesellschaft ignorieren, dann wird der Bruch mit der Geschichte problematisch. Was einen Neubau für das historische Zentrum betrifft, bin ich der Meinung, daß ein Entwurf der sich ausdrücklich mit dem vorhandenen Bestand auseinandersetzt, zukunftweisender wäre als der Rückgriff auf die gläsernen Visionen des frühen 20. Jahrhunderts. Dann denke ich an das Engelshaus mit seiner außergewöhnlichen Architektur, die für die Entwicklung des Wuppertals im 18. und 19. Jahrhundert steht, und an die Industriearchitektur des heutigen Ausstellungsgebäudes. Die Idee, daß jetzt ein verbindender gläserner Neubau nötig wäre, der sich davon absetzt, ist eine altmodische idée fixe, die nichts mit dem Konzept einer technischen und kulturellen Nachhaltigkeit zu tun hat.
 
Uwe Blass
 
Der 1964 in Bremen geborene Architekt Prof. Dr.-Ing Christoph Grafe leitet seit 2013 den Lehrstuhl für Architekturgeschichte und -theorie an der Bergischen Universität.