Trotzdem

Ferdinand von Schirach, Alexander Kluge – „Trotzdem“

von Johannes Vesper

Trotzdem
 
Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge, zwei ältere Intellektuelle, tauschen sich über Corona aus, über die Pandemie, die aktuell die Welt beherrscht. Täglich Corona-Extra im Fernsehen, täglich neue Infektionen, neue Tests, neu die Infektionen pro 100.000, Todesfälle, Genesene, Reproduktionszahl. Corona bildet. Der Austausch der beiden findet nicht statt von Angesicht zu Angesicht, sondern auf Distanz im Instant Messaging Dienst mit sofortiger Nachrichtenübermittlung. Es ist also kein Gespräch, sondern ein schriftlicher Austausch von Gedanken über hunderte von Kilometern hinweg, zweimal am 30.03.2020.  Der Titel der Gedankensammlung steht bei Thomas Mann, in der Novelle „Der Tod in Venedig“.  Trotz „Kummer und Qual“ komme alles Große als ein „Trotzdem“ zustande. Was bedeutet, was bewirkt die Epidemie? Was kommt danach? Was erwächst aus der Katastrophe? Weiter wie bisher? Kann das unser Motto sein? 
 
Vielleicht stammt das Corvid-19 Virus ja vom Ameisen fressenden Schuppentier Pangolin, welches auf den Märkten Wuhans verkauft wurde. Das Virus, die geometrisch robuste Kugel mit Fransen, breitet sich seit Ende Dezember über die Welt aus. Am 08.05. 2020 gab es 3.867.838 bestätigte Fälle, 1.306.321 wieder Gesunde und 272.324 Todesfälle. Mit der Spanischen Grippe von 1918 sind die Zahlen (noch) nicht vergleichbar. Damals gab es ca. 50 Millionen Tote weltweit. Der gedankliche Austausch der beiden gebildeten Juristen reicht in die Tiefe der Geschichte, der Rechtswissenschaft, der Philosophie und macht klar, daß die Welt schon früher unter Kriegen, gewaltigen Epidemien und Naturereignissen gelitten hatte. Von der Pest in Florenz 1327 (Decamerone) bis zum gewaltigen Erdebenen bzw. Tsunami von Lissabon 1755 besprechen die beiden europäische Katastrophen, aus denen auch Neues entsteht wie Renaissance und Aufklärung. Sie diskutieren vor allem die Bedeutung des Herunterfahrens (Lock down) von Gesellschaft und Wirtschaft mit gravierenden Einschränkungen persönlicher verfassungsgemäßer Rechte, deren Ursprünge sich in der amerikanischen Verfassung von 1776 finden, zu Zeiten blühenden Sklavenhandels in  Europa und Amerika. Heute gibt es Ausgangssperren, Kontaktverbote, Maskenpflicht, und wir hoffen so, die gefährliche Coronainfektion vermeiden zu können. Masken werden schon seit Jahren wegen Luftverschmutzung in China und Indien benötigt. Billigfleisch können wir am Sommerabend nur grillen unter Ausnutzung billiger balkanischer Arbeitskräfte, deren sklavische Arbeitsbedingungen im Münsterland und anderswo dazu führen, daß erneut Corona-Brennpunkte entstehen. Vom Spargelstechen und der Weinlese, von der Altenpflege und Hotellerie z. B. auf Norderney will ich jetzt gar nicht sprechen. Wir müssen unsere Grundrechte einschränken, um all das zu erhalten.
 
Die beiden Autoren formulieren Fragen über Fragen, eine drängender als die nächste, auf die sie aber auch keine festen Antworten wissen. Hat die Corona-Pandemie Bedeutung für unsere zukünftige Gesellschaftsordnung? Haben wir Anspruch und Recht auf eine intakte Umwelt? Wollen wir unsere Erde weiter ausbeuten und ruinieren mit der Folge der Erderwärmung, die unausweichlicher und grausamer unser Leben betreffen wird? Sollten uns Menschenrechte nicht immer wichtiger sein als wirtschaftliche Interessen? Gibt es nach Corona einfach nur ein „weiter-so“?  Es bestehe eine Chance nach der Barbarei des 20. Jahrhunderts unser Leben und die Welt neu zu denken (siehe https://www.musenblaetter.de/artikel.php?aid=26842), heißt es am Ende der Gedankensammlung. Eine große und wichtige Aufgabe angesichts noch nicht beherrschter Pandemie für jeden von uns. Daß sich neuerdings Tausende unser Mitbürger ohne Distanz und Masken als pandemische Verschwörungsphantasten, gefüttert mit Halbwahrheiten, Meinungen, Fake News und schlichtem Unsinn gegen Gesundheitsfaschismus und  Corona-Diktatur zusammenrotten, um gemeinsam mit Rechtsradikalen gegen den Verlust bürgerlicher Grundrechte und das Infektionsschutzgesetz zu demonstrieren, konnten unsere Autoren nicht ahnen. Dagegen helfen (hoffentlich) Rat und Trost von Paul Fleming aus den schlimmeren Zeiten des 30jährigen Krieges, der an sich selbst dichtete: Sei dennoch unverzagt, gib dennoch unverloren…  
 
Ferdinand von Schirach, Alexander Kluge – „Trotzdem“
©  2020 Luchterhand Literaturverlag, 75 Seiten, gebunden – ISBN: 978-3-630-87658-0
8.-€
Weitere Informationen:  www.randomhouse.de/Buch/Trotzdem/