Was alles wir der chinesischen Fledermaus verdanken

Aus meinem Corona-Logbuch I

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Ryszard Kopczynski
Michael Zeller
 
Was alles wir der chinesischen Fledermaus verdanken
 
Aus meinem Corona-Logbuch I
 
 
23.April 2020

Wir stehen jetzt in der fünften Woche, da über Deutschland eine moderate Quarantäne verhängt ist und die Lebenskreise der Menschen, sofern sie sich daran halten, erheblich eingeschränkt sind. Und die meisten scheinen es zu tun. Die Medien schießen ja auch aus allen Rohren. Und jetzt nur noch in eine Richtung. 
Das große MAN führt die Regie. Die Bundeskanzlerin spricht heute von der Seuche als einer „demokratischen Zumutung”. Damit hat sie recht.
Mittags, beim Nachhause-Kommen, fällt mir eine neue Verhaltensweise auf, die mir spontan entkommt, ohne Überlegung. Die Haustür ist aufgeschlossen, da stoße ich sie mit dem Fuß auf, und nicht, wie ein Leben lang geübt, mit der Hand. Vorsicht, hat da unhörbar eine Stimme in mir geflüstert: Vorsicht! Die chinesische Fledermaus läßt auch hier grüßen.
Heute ist der Welttag des Buches, am Todestag von Shakespeare und Cervantes.  Aus diesem Anlaß war meine Lesung in einer in Bonner Buchhandlung vorgesehen. Schon Anfang des Monats haben der Buchhändler und ich uns auf die Absage verständigt. Meine sämtlichen Veranstaltungen in diesem und dem nächsten Monat fallen ebenfalls aus. Diese finanzielle Lücke beunruhigt mich und verfolgt mich bis in den Schlaf. Fast mehr aber noch die Frage: Wann werden überhaupt wieder Lesungen möglich sein, und welcher Veranstalter wird sie sich dann noch leisten können oder wollen?
Dagegen kenne ich nur ein Hilfsmittel: Verdrängen. Den heutigen Tag leben, mit offenen Sinnen. Den Blick frei und nach vorn.  Von Vorteil ist es sicher: Diese Methode ist mir vertraut. So habe ich meine ganze Existenz als freier Schriftsteller geführt. Über Jahrzehnte, Tag für Tag. Das Jonglieren über dem Abgrund auf dem seidenen Seil eines Luftakrobaten.
Vorgestern haben wir die Lektüre der „Pest” begonnen, des Romans von Albert Camus, A., meine Lebenspartnerin und ich. Diese abendliche Vorlesestunde ist ebenfalls eine Errungenschaft, die uns die chinesische Fledermaus beschert hat. Nach dem gemeinsamen Abendessen, ausschließlich nur noch am heimischen Wohnzimmertisch eingenommen, und nur noch zu zweit, lesen wir beide uns ein Stück Literatur vor, auf das wir uns zuvor geeinigt haben. In den drei Wochen Quarantäne ist das bereits der dritte Prosaband (nach meinem Roman DER WIEDERGÄNGER und Boccaccios DEKAMERON, in Teilen).
„Die Pest” lese ich jetzt bereits zum dritten Mal, und immer noch aus dem alten gelben rororo-Taschenbuch, in dem ich es als Schüler kennengelernt habe. Als Lesezeichen liegt zwischen den leicht vergilbten Seiten, unglaublich eng bedruckt, eine halb abgerissene, porös gewordene Eintrittskarte von damals, datiert Dezember 1963, in Bad Homburg, wo ich die Oberschule besuchte. Interessant für mich jetzt, daß ich in dem fast antiken rororo-Bändchen („318.-338. Tausend”) die Lesespuren der beiden vorherigen Lektüren mitverfolgen kann.
Der achtzehnjährige Schüler unterstrich noch brav mit dem Bleistift Zeile für Zeile, was ihm wichtig erschien. Davon abgesetzt die Striche des roten Filzstifts über ganze Passagen, halbe Seiten hinweg. Die stammen von der zweiten Lektüre, aus den späten 1980er Jahren, in der Nürnberger Epoche, als ich an meinem eigenen Pestroman arbeitete, DER WIEDERGÄNGER, der 1990 in der Schweiz erschien. 
Für kein anderes Thema habe ich gründlicher recherchiert als über die Seuche des Mittelalters, die ein Drittel der damaligen Bevölkerung Europas verschlang. Für einen Vortrag erkundet der junge Klinikleiter Ruppin die Lebensumstände zu dieser Zeit. Selbstverständlich gehörte dazu auch, wenn auch eher am Rande, das nochmalige Studium von Camus’ Roman.
Mein  persönlicher Auslöser für das Pest-Thema war natürlich die in den 1980er Jahren weltweit ausgebrochene Seuche AIDS, die jeden sexuell aktiven Menschen auf das Intimste betraf. Die Angst packte einen jeden existentiell. Einige meiner Freunde lagen im Sterben oder waren schon gegangen.
Heute also, im Zeichen der chinesischen Fledermaus, weitere dreißig Jahre später, die dritte Lesung dieses Romans. Wieder ist die Bedrohung durch eine Seuche der Anlaß, und wieder ist sie persönlich: diesmal auf Grund des schieren Lebensalters. Der vor dem Leben stehende Schüler konnte damals nur ahnen, daß Camus’ Geschichte für ihn ein Buch der Angst werden würde, eines über ein ganzes Leben reichenden Schreckens – und doch: Was für ein prachtvolles Stück Literatur!
Dafür sein ganzes Leben eingesetzt zu haben: das hat sich gelohnt. Damit läßt sich, wenn es sein muß, gehen.
 
 
© Michael Zeller 2020