Der Nichtfernseher

Eine Glosse

von Ernst Stankovski

© Ernst Stankovski
Der Nichtfernseher
 
Eine Glosse über das Fernsehen.
 
 
„Fernsehen bildet. Immer, wenn der Fernseher an ist,
gehe ich in ein anderes Zimmer und lese.“
Groucho Marx
 
Etwa drei Minuten lang. Sie können schreiben, was Sie wollen: über Tagesschau oder Talk Show, über Schweinchen Dick oder Wim Toelke. Sie können das Thema ernst behandeln oder heiter, kritisch oder spöttisch, vielsagend oder nichtssagend - wie gesagt, Sie können schreiben, was Sie wollen - und wenn Ihnen gar nichts einfällt, auch wie ein Fernsehkritiker. Nur eben über das Fernsehen sollen Sie schreiben, Ihre Glosse!
Und hier beginnt es, schwierig zu werden. Man kann mit gutem Gewissen über das Fernsehen nur schreiben, wenn man es auch sieht und das ist bei mir äußerst selten der Fall. Ich bin dementsprechend auch mit Bildungslücken behaftet, derenthalben sich ein siebenjähriges Kind nicht in die Schule wagen dürfte. Ich weiß weder aus eigener Anschauung, was die Leute auf der Shiloh Ranch treiben, noch wer Perry Mason ist. Ich habe noch nie Bonanza gesehen, noch miterlebt, was am „Tatort“ geschieht. Ich kann also mit gutem Gewissen nur über das Nichtsehen des Fernsehens schreiben.
Es gibt Nichtfernseher aus Überzeugung, aus Faulheit, aus Indolenz und aus Snobismus. Es gibt Nichtfernseher des Zufalles oder des Stromausfalles wegen. Solche, die das Gerät gerade bei der Reparatur haben, und andere, die es eben ihrer Ehehälfte überlassen müssen und selber statt in die Röhre durch die Finger schauen. Es gibt Dilettanten des Nichtfernsehens, Anfänger und Professionals. Dilettanten drehen das Gerät ab, wenn ihnen weder im Ersten, noch im Zweiten oder im Dritten Programm eine Sendung gefällt. Sie schalten hin und her, ärgern sich bei jedem Knopfdruck mehr, und unter wildem Schimpfen auf die Leute vom Fernsehen sitzen sie dann schließlich vor der verfinsterten Flimmerkiste. Sie fühlen sich betrogen um den Abend und um die monatliche Fernsehgebühr. Aber diese Art des Nichtfernsehens kostet unnötig Kraft und Arger, bringt keinen Genuß und verschafft keinerlei Befriedigung.

     Der ernsthafte Nichtfernseher sieht nicht fern mit Methode. Nur das erhebt die TV-Abstinenz zum Kunstwerk und steigert das eigene fernsehlose Lebensgefühl.
Hier wären die Anfänger zu erwähnen. Sie erkennt man sofort am sogenannten „Auswählen des Programmes“. Sie lesen die Fernsehzeitschriften, kreuzen Sendungen an, die sie interessieren, und drehen das Gerät eben nur zu diesen Sendungen auf. Dann sitzen sie davor, in der Überzeugung, mündig zu sein, und wundern sich, daß sie nach der gewählten Sendung noch weitere zwei Stunden vor dem Apparat verbringen, um Dinge zu konsumieren, die sie überhaupt nicht sehen wollten. Sie ärgern sich über die verlorene Zeit und nehmen sich vor, es beim nächsten Mal besser zu machen, um nicht Sklaven der Mattscheibe zu werden. Aber diese ist in der Regel doch stärker, und die meisten dieser TV-Abstinenz-Anfänger werden mit der Zeit doch noch echte Mattscheibenbenützer. Anders der Professional. Wir wollen hier nicht vom sektiererischen Überzeugungsnichtfernseher reden, der sich gar keinen Apparat ins Zimmer stellt. Das ist Schummelei und grenzt an Feigheit.
Nein, der echte Nichtfernseher hat natürlich einen Apparat im Haus, am besten ein Farbgerät. Er kennt die Qualität des Bildes und die einlullende Wonne der bewegten Farben. Er kennt die Shows und Krimis, die Quizsendungen und die Diskussionen. Er kennt sie, und er weiß auch ganz genau, wann sie gesendet werden. Er liest jeden Abend seine Fernsehzeitschrift und genießt das Hochgefühl, daß alles das, worunter er wählen könnte - wenn er wollte -, von einer gewaltigen Industrie geschaffen wurde; nur für diesen Abend und nur für ihn.
     Dann dreht er den Apparat an, und sobald das Bild zu tanzen beginnt, schaltet er wieder ab. Er setzt sich mit seiner Zeitung oder einem Buch neben den Kasten und sieht nicht Er geht ans Klavier oder ins nächste Kaffeehaus und sieht nicht Er verbringt einen Abend nach dem anderen in der verlockenden Gegenwart des versklavenden Mediums und läßt sich nicht versklaven. Er lacht Hohn den Werbungen und Verführungen, den Schlagern und den Schlägern. Er weiß, daß er das alles sehen könnte aber er tut es nicht. Er spielt mit der Neugier Katz und Maus. Er sieht den Kasten täglich vor sich, und er guckt nicht hinein.
Das ist der Genuß, den der Nichtfernseher aus dem Fernsehen gewinnt. Vergleichbar nur mit der Befriedigung, die der Schlanke erfährt, wenn die ihn umgebende dicke Menschheit über zu viel Kalorien klagt. Noch ist er allerdings selten, der hochkarätige Nichtfernseher, wie der Nichtautofahrer, der Nichtkonsumierer, der Nichtfortschrittsanbeter Aber er rührt sich hie und da. Man könnte ihn auch erziehen, wenn man noch erziehen könnte. Aber das finge doch gerade beim Nicht-Fernsehen an.
 
© Ernst Stankovski