Ein wuchtiges Stück Kleinprosa

Heimito von Doderer – „Die Posaunen von Jericho“

von Frank Becker

Katharsis?
 
Ein wuchtiges Stück Kleinprosa
 
„Mein eigentliches Hauptwerk.“
Heimito von Doderer
 
Maßlos und mit erkennbarem Vorsatz läßt sich der Erzähler dieses kleinen Prosastücks, in dessen zentraler Figur des namenlos bleibenden Herrn Doktor sich der Autor Heimito von Doderer sich schonungslos spiegelt, in einen verstörenden Strudel von moralischer Ausschweifung und rücksichtsloser Gier ziehen.
 
     Nachdem er unabsichtlich ein einem dunklen Hausflur Zeuge eines nicht weiter ausgeführten sexuellen Übergriffs auf ein kleines Mädchen geworden ist, begegnet ihm der Übeltäter, der Staatspensionist Rambausek wieder und wieder, man scheint die gegenseitige Nähe in einem Café bewußt zu suchen, bis letzterer, vom Erzähler zutiefst gedemütigt, zunächst aus dem Blickfeld verschwindet.
     Szenenwechsel. Was folgt, sind ausartende Alkoholexzesse und Raufereien mit zahllosen Fremden in der eigenen Wohnung, an denen auch ein Doktor Pretzmann teilnimmt, und schließlich ein dröhnender Posaunenstreich der wüsten Männerhorde, der auf eine eigentlich von allen geschätzte, anmutige alte Dame zielt. Doch Frau Ida ist nicht zu Hause, weshalb der nächtliche Lärmangriff mißlingt, wie Doderer erst später auflöst. Das Überfallkommando der Polizei bereitet dem groben Unfug ein jähes, wenn auch folgenloses Ende.
     Erneuter Szenwechsel. Der Erzähler begegnet zu seiner Verblüffung erneut Rambausek, nun u.a. in Gesellschaft der Eltern und Verwandten des mißbrauchten Mädchens, die ihn zuvor zu einer Zahlung erpreßt hatten, nun aber offenbar im Vernehmen mit ihm stehen. Der Herr Doktor entbrennt in grober sexueller Gier – mit drastischen Worten geschildert – zu Frau Jurak, der deftigen Mutter, die dem in einem Café auch nachgibt. Als sie nach einem solchen schwitzigen Stelldichein Zeugen der Rettung des Kindes vor dem Ertrinken durch Rambausek werden, der sich dabei selber in Lebensgefahr bringt, scheint der rettende Schritt geschafft. Der Erzähler reist ab, verläßt die Stadt, die Gesellschaft, das bis dahin geführte Leben.
 
     Einige der Kernsätze finden sich in Kapitel 18, aus dem ich hier zitiere: „Hier nun geschah ein Fall apriorischer Kurzerledigung, eine sozusagen von vornherein erfolgende epigrammatische Zusammenfassung des auftretenden Phänomens, anschaulich zudem durch die Sprache der Tathaftigkeit. Und hier wurde deutlich, daß alles Leben nur deshalb immer weiter verläuft, weil wir zu seiner umfassenden Definition nicht fähig sind, auf welche es doch unerlöst wartet; wir aber, stammelnden Mundes, unfähiger Hand, zwingen es, sich weiter zu wälzen, von einem dicken Chronikband in den anderen. Nun aber wartete es einmal nicht vergebens, und wenigstens auf schmalem Segmente ward seinem Anruf unverzüglich volle Folge geleistet.“
     Der schönste Satz aber ist im vorletzten Kapitel 22 zu lesen, weshalb ich auch ihn zitiere: „Des Kindes Hand (es geht hier um ein anderes Kind, Anm.) blieb einen großen Teil der Fahrt hindurch auf meiner liegen: bei mir rastete ein himmlischer Vogel.“
 
     Wie fieberhaft delirierend bei dennoch klarem Verstand hetzt Heimito von Doderer seinen Leser durch dieses kleine Prosastück von meisterlicher Sprache, das wie ein Schrei klingt und das durchaus als Versuch einer Katharsis gedeutet werde kann.
Dieses sprachgewaltige finstere kleine Meisterstück Doderers, das er selbst gern als sein ‹eigentliches Hauptwerk› bezeichnet hat, ist mit nur 143 Gramm auf der Briefwaage dennoch zentnerschwer.
 
Heimito von Doderer – „Die Posaunen von Jericho“
Mit eine Nachwort von Thomas Melle
© 2020 C.H. Beck textura, 80 Seiten, gebunden – ISBN: 978-3-406-74958-2
14,- €
Weitere Informationen: www.chbeck.de