„Wehe, wehe, du Wind!“

Wagner zitiert auch in seiner Oper „Tristan und Isolde“ aus Märchen

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
 „Wehe, wehe, du Wind!“
 
Wagner zitiert auch in seiner Oper „Tristan und Isolde“ aus Märchen
 
Von Heinz Rölleke
 
 
Richard Wagner verfaßte bekanntlich die Libretti zu seinen Opern selber. Ideen sowie zahlreiche Motive und wörtliche Zitate übernahm er aus mythologischen Schriften. Jacob Grimms „Deutsche Mythologie“ und die von ihm stets hoch gepriesenen Grimm'schen „Kinder- und Hausmärchen“ spielten für sein poetisches Schaffen eine wichtige Rolle. Im „Dornröschen“-Märchen sah er eine Parallele zu der für seinen „Ring des Nibelungen“ von ihm nach altnordischen Mythen neu gefaßten Geschichte um Siegfried und Brünnhilde; der furchtlose Königssohn sollte ursprünglich als Kopie des Jungen im „Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lernen“ in einer komischen Oper agieren. Der Charakter des Helden im dritten Teil der Wagner'schen Tetralogie („Siegfried“) ist tatsächlich frappierend eng an die Hauptfigur des berühmten Grimm-Textes angelehnt. Wenn es zum Beispiel eingangs des Märchens heißt „Der Jüngste aber war dumm“ (das meint, er war so töricht, daß er nicht einmal wußte, was 'Fürchten' ist), so faltet Wagner das aus. Der Zwerg Mime, Siegfrieds Ziehvater, erklärt diesem: „Das Fürchten lernt' ich für dich, daß ich's dich Dummen lehre.“ Siegfrieds Worte an den Waldvogel (der wohl aus „Hänsel und Gretel“ eingeflogen ist) bringen es auf den Punkt: „Der dumme Knab', der das Fürchten nicht kennt, mein Vöglein, das bin ja ich!“ Ein fast wörtliches Zitat aus dem Märchen „Die Wichtelmänner“ ist ebenfalls dem Zwerg in den Mund gelegt, wenn Wagner die Grimm'schen Verse zitiert:
           
            „Nun bin ich so alt
            wie der Westerwald
            und hab nicht gesehen, daß jemand in Schalen kocht“
 
Daraus wird in der Oper:
 
            „Nun ward ich so alt,
            wie Höhl' und Wald
            und hab' nicht so was gesehn!“
 
Die Frage einer Walküre „schläfst oder wachst du?“ erinnert jeden Märchenkenner unweigerlich an die Worte der Ente im Märchen „Die drei Männlein im Walde“: „König, was machst du? / Schläfst du oder wachst du?“
 
Wagner hat sich brieflich einige Male über den Einfluß von Märchenmotiven auf seine Libretti geäußert, zum Beispiel dezidiert mit dem Hinweis auf die Grinmm'sche Version des Fürchtenlernens, aber auch auf den Dornröschenschlaf, mit dem er die Todesstarre Kundrys in seiner letzten Oper „Parsifal“ verglich.
 
Während solche bewußt oder unbewußt übernommenen Märchenelemente in der Forschungsliteratur zu Wagners Werken zum Teil erkannt wurden, hat man die „Tristan“-Dichtung kaum unter diesem Aspekt betrachtet. Dabei zeigt allein schon der gesamte Handlungsverlauf nicht nur weitgehende Identität mit dem mittelhochdeutschen Epos des Gottfried von Straßburg, sondern auch mit dem Grimm'schen Märchen „Die Gänsemagd“. Auch hier wird eine Königstochter von ihrer Mutter zur Hochzeit mit einem Prinzen geschickt, den sie ebenso wenig kennt wie Isolde ihren künftigen Gatten Marke; auch hier gibt die Mutter der Tochter Zaubermittel mit auf den Weg. Wie im „Tristan“ spielt hier ebenfalls die mitreisende Magd eine große Rolle, und schließlich kann man den Verräter Melot mit dem Hütejungen Kürdchen vergleichen, der den alten König auf das Verhalten der Gänsemagd aufmerksam macht. All diese Parallelen sind letztlich darauf zurückzuführen, daß die mittelalterlichen „Tristan“-Dichtungen und das Märchen ursprünglich auf denselben keltischen Quellen beruhen.
 
Hier sollen einige direkte Übernahmen aus dem Grimm'schen Text in Wagners Libretto nachgewiesen werden. Der erste Akt der Oper spielt auf einem Schiff, das die Prinzessin und deren Magd von ihrem Hof in Irland an den Hof des Bräutigams nach Cornwall bringt. Im Märchen reiten die beiden „weit über Feld“. Das Lied eines 'jungen Seemanns' steht am Beginn der Oper:
 
            „Westwärts schweift der Blick; ostwärts streicht das Schiff.
            Frisch weht der Wind der Heimat zu: -
            mein irisch Kind, wo weilest du?      
            Sind's deiner Seufzer Wehen, die mir die Segel blähen?
            Wehe! Wehe du Wind!
            Weh! Ach wehe, mein Kind!
            Irische Maid, du wilde minnige Maid!“
 
Die Imagination einer Fahrt übers Meer hat Wagner nach dem mittelalterlichen „Tristan“-Epos, aber auch nach eigenem Erleben einer abenteuerlichen Schiffsreise nach London im Jahr 1840 gestaltet, das zu Beginn des „Fliegenden Holländer“ allerdings noch deutlichere Spuren hinterlassen hat: Ein Sturm hat Dalands Schiff statt in den heimischen Hafen auf „Sandwyk-Strand“ getrieben. Das Lied des Steuermanns zeigt Ähnlichkeit mit den einleitenden Versen der „Tristan“-Oper:
 
            „Mit Gewitter und Sturm aus fernem Meer -
            Mein Mädel, bin dir nah'. [...]
            Mein Mädel, wenn nicht Südwind wär'.
            Ich nimmer wohl käm' zu dir:
            Ach, lieber Südwind! Blas noch mehr.“
 
Jeder Schiffsmann drückt Sehnsucht nach seinem geliebten Mädchen in ganz ähnlichen Wendungen aus. Im „Tristan“ ist Wagner mit dem sonst nur toposhaften Seemannslied eine stilistische Meisterleistung gelungen, mittels derer sich verschiedene Bedeutungsebenen verschränken. Der junge Seemann ermuntert die Winde, stärker und in die richtige Himmelsrichtung zu wehen, denn er ist sicher, daß auch seine irische Maid unter der Trennung leidet und mit ihren Seufzern geradezu den Winden hilft, das Schiff schneller an Land zu bringen. Zugleich ruft er aber auch im Mitgefühl für ihre Traurigkeit „Weh“ über sie. In eins damit trifft sein Lied das Schicksal Isoldes, die ja ebenfalls ein „irisch Kind“ ist. Über sie ergeht unbewußt ein viel stärkerer Wehmutsseufzer, den sie denn auch sofort auf sich bezieht: „Wer wagt mich zu höhnen?“ Wenig später wiederholt Brangäne den Weheruf, nun aber ausschließlich in dieser Bedeutung: „Wehe! Wehe! Unabwendbar ewige Not.“ Isoldes „Weh“ erwächst aus der bevorstehenden ehelichen Verbindung mit einem ungeliebten Mann. Sie sieht aber nicht nur verzweifelnd ihrer Verheiratung mit dem alten König Marke entgegen, sondern sie wird durch den Liebestrank auch in eine geradezu 'wilde Minne' zu Tristan geraten, deren Ende ihren Liebestod bedeutet. Dieses Sterben wird schon mit dem ersten Wort der Oper „Westwärts“ symbolisch angedeutet: Viele alte Mythologien lokalisieren das Totenreich hinter einem Gewässer im Westen, dem Ort der untergehenden Sonne. Dorthin wird also ihr Lebensschiff Isolde letztlich führen.
 
Es ist nicht zu bezweifeln, daß Wagner zur Verszeile „Wehe! Wehe, du Wind!“ durch das Grimm'sche Märchen angeregt wurde, was allein schon die Wortwiederholung des Imperativs vermuten läßt: „Weh, weh, Windchen.“ Die zur Gänsemagd erniedrigte Königstochter vermag den Wind zu besprechen, denn nach dem dreimal zitierten Zauberspruch heißt es jeweils: „Da kam ein so starker Wind...“, „da wehte der Wind“ und „da kam ein Windstoß“. Es ist das letzte Mittel, das ihr von den magischen Gaben ihrer Mutter geblieben ist, denn deren Blutstropfen sind verschwunden, und das Zauberpferd Falada ist getötet worden. Der Wagner'schen Isolde ist nicht einmal mehr dieses Zaubermittel dienstbar, denn sie klagt entsprechend:
 
            „Wohin, Mutter, vergabst du die Macht,
            über Meer und Sturm zu gebieten?“
           
Was Wagner auf die Idee brachte, das homonyme Wort „Weh(e)“, das zum einen das Wehen des Windes und zum anderen den Ausdruck tiefsten (Mit)Leidens bedeutet, so geistvoll an den Anfang seiner Oper zu platzieren, läßt sich nachweisen. Nicht in der allgemein verbreiteten Ausgabe Letzter Hand der Grimm'schen Märchensammlung, sondern nur in den beiden ersten Auflagen von 1815 und 1819 findet sich zum Imperativ „Weh'“ am Beginn der Zauberformel eine Erläuterung unter dem Text:
„*) D. h. Windchen wehe! nicht die Ausrufung 'eheu'!“ Damit wird auf die Doppeldeutigkeit der Wendung und zugleich auf den im Märchen gemeinten Sinn des Homonyms (ein Wort mit zwei Bedeutungen, heute unter dem Begriff 'Teekesselchen' bekannt) verwiesen. Wagner hat also nicht nur direkt die Grimm'sche Verszeile zitiert, sondern indirekt auch die Fußnote; diese mußte ihn interessieren, und er konnte sie bei seiner großen Vertrautheit mit Märchen im Allgemeinen und mit der „Gänsemagd“ im Besonderen nicht übersehen. Sie veranlaßte ihn, das Wort „Weh“ in seiner Doppeldeutigkeit in das Lied des Seemanns einzubringen. Es ist anzunehmen, daß Wagner - übrigens genau wie Heinrich Heine - seine Zitate aus dem zweiten Band der „Kinder- und Hausmärchen“ in der Zweitauflage von 1819 (Seite 18) entnahm, die bis 1837 im Handel war; in seiner nachgelassenen Bibliothek ist allerdings keine Ausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ erhalten.
 
Wie umfassend Wagner sich in der Literatur auskannte, die zur Gattung 'Märchen' zählt, zeigt ein verdecktes Zitat, das sich zu Beginn des berühmten Liebesduetts im zweiten Akt der „Tristan“-Oper findet, in dem wieder das Wort „Wehen“ als Parallele zu „Bangen“ begegnet:
 
            „O sink hernieder, Nacht der Liebe
            […]
            ohne Bangen süß Verlangen;
            ohne Wehen hehr Vergehen.“
 
In Christian Dietrich Grabbes Märchendrama „Aschenbrödel“ heißt es im dritten Akt:
 
            „Sinket er nieder der Äther der Liebe?
            Er sinkt hernieder, wir fühlen sein Wehen!“
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2020