Böse, böse Bücher

Markus Krajewski und Harun Maye (Hgg.) – „Böse Bücher.“

von A.M. zu Hörstmar

Böse, böse Bücher
 
Gut und Böse gelten gemeinhin als moralische Himmelsrichtungen, die Orientierung in der Welt versprechen. Und wie der magnetische Nordpol sind auch sie Verschiebungen unterworfen, wenn etwa die politisch-ideologische Großwetterlage wie unser Planet ins Trudeln gerät. So fallen dem zeitgenössischen Leser sicherlich auf Anhieb etliche Buchtitel ein, die man in unseren Tagen als ‚böse‘ markieren und indizieren würde, Hitlers Mein Kampf etwa und vielleicht auf der anderen Seite des politischen Spektrums die Essays Pol Pots aus den 1970er Jahre, die über den Kommunistischen Bund Westdeutschlands auch in der Bundesrepublik ihr Publikum fanden und die große Transformation der Gesellschaft in einen Agrarkommunismus verkündeten.
 
Wird zudem ein Buch erst einmal als ‚böse‘ stigmatisiert, scheint der Ruf nach Zensurmaßnahmen nahezu notwendig legitimiert. Wenngleich Buchzensur immer auch Mittel der Diskurskontrolle im bedenklichen Kampf um die Meinungsführerschaft ist, ein Kampf, der mit gelegentlich bestürzender Logik in den Kampf gegen die Urheber selbst umschlägt. Man denke hier an das berühmte Zitat aus Heines Almansor oder an Johannes Hus, der auf seinem Weg zum Scheiterhaufen noch erleben durfte, wie man seine Schriften vor ihm verbrannte.
 
In ihrem Sammelband Böse Bücher – Inkohärente Texte von der Renaissance bis zur Gegenwart versuchen Markus Krajewski und Harun Maye nun weniger einen Katalog ‚böser‘ Bücher aufzulisten, wie ihn etwa der 1559 ein erstes Mal gedruckte Index auctorum et librorum der Heiligen Römischen Inquisition als nach eigenem Verständnis Verzeichnis herätischer Schriften präsentiert, als vielmehr „Fallgeschichten“ als „Streit [um] die Frage nach der Möglichkeit und Wirklichkeit des Bösen in Büchern“ (S. 16) zu dokumentieren. Als prominentes Beispiel führen sie in ihrer Einleitung Curzio Malaparte an, der mit Kaputt (1944) und Die Haut (1949) abstoßende Gewaltgeschichten in höchst differenten politischen Kontexten präsentierte, in denen ästhetische Faszination mit moralischer Indifferenz einhergeht. Diesem „Zustand der Ambivalenz“ soll in den „ausgewählten bösen Büchern“ (S. 27) nachgegangen werden. Voyeuristen werden spätestens an dieser Stelle das Buch aus der Hand legen und selbst dem wohlgemuten Leser dürfte die Lektüre des Inhaltsverzeichnisses Stirnrunzeln verursachen, werden doch auch Wilhelm Buschs Max und Moritz und Waldemar Bonsels‘ Biene Maja in die moralpolitische Kategorie schurkische Indifferenz eingeordnet. Neugierde dürften allerdings die nun zu erwartenden argumentativen Volten wecken - doch der (chronologischen) Reihe nach.
 
Den Reigen böser Bücher eröffnet Benvenuto Cellinis Vita aus dem Jahre 1566. Zweifellos war Cellini kein sixtinischer Chorknabe und nur die Protektion Cosimo de‘ Medicis sowie Papst Pauls III. retteten ihn vor Strafverfolgungen wegen Päderastie und Mord an einem künstlerischen Rivalen. Ein genialer Schurke also, den Goethe immerhin im Anhang seiner 1803 abgeschlossenen Übersetzung der Vita „als Repräsentant[en] seines Jahrhunderts“ bezeichnet, als einen der geistigen „Flügelmänner […] der Künstlerklasse“. So fällt es am Ende selbst dem Verfasser dieses Cellini-Aufsatzes, Andreas Beyer schwer, Cellini samt seiner nur noch in Anführungen ‚böse‘ genannten Autobiographie zu verurteilen, reihen sich doch in die Phalanx seiner Verteidiger immerhin neben Goethe, Jacob Burckhardt, Hector Berlioz und Friedrich Nietzsche ein. Leichter fällt es Martin Mulsow den heute gegenüber Cellini weniger bekannten Adriaan Beverland der intellektuellen Bosheit zu überführen, legte dieser doch mit De peccato originali / Über die Erbsünde 1678 ein Buch vor, dessen intrikate Argumentation darauf abzielt, nicht im moralischen Erkenntnisdrang die Ursünde zu sehen. Die Schlange versprach ja den ersten Menschen, daß sie nach Genuss der Apfelspeise wie Gott Gut und Böse unterscheiden könnten. Aber darf man das Versprechen einer Schlange für belastbar halten? Natürlich nicht und Beverland hebt in brillantem Latein, ein Grund weshalb die Menschen heute weitgehend vor Beverlands Bosheiten geschützt sind, hervor, daß es bei dieser Erkenntnis um die Erkenntnis des geschlechtlichen Unterschieds ging – also um Sex! Im Paradies! Wenn Beverland dann noch ohne wirklich triftigen Grund auf Lucilio Vanini zu sprechen kommt, nur um dessen ‚diabolische Idee‘ auszubreiten, Moses, Jesus und Mohammed, die drei Begründer der monotheistischen Religionen, sein Betrüger gewesen, wie man astrologisch leicht hätte nachweisen können, dann fällt es ungleich schwerer ihn wie Cellini zu retten. Beverland starb verarmt in London, Vanini auf dem Scheiterhaufen in Toulouse. Dort hätte wohl auch der Autor eines weiteren sinistren Machwerkes sein Ende gefunden, daß ebenfalls die abscheulich herätische These der drei betrügerischen Religionsstifter verbreiten wollte, De tribus impostoribus / Von den Betrügereyen der Religionen - wenn es ihn denn wirklich gegeben hätte! Klaus Birnstiel weist nach, daß die bis ins 13. Jahrhundert zurück zu verfolgenden Spekulationen über diese Schrift, nebst ihren gefälschten Nachdrucken späterer Zeit, einzig das Ziel verfolgten, anderen, nämlich denjenigen, denen das Buch zugeschrieben wurde, zu schaden.
 
Der Misanthrop Arno Schmidt empfahl in einem seiner Funkessays 1959 die Lektüre des ausgesprochen misanthropischen Romans Belphegor oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne, die 1776 von Johann Karl Wezel, dem König der Misanthropen, veröffentlicht wurde, weshalb die Zeitgenossen den Roman wohl für autobiographisch hielten. Die in ihm geschilderte Welt erscheint hoffnungslos verloren, ohne Gott, allein den Launen der Menschen ausgeliefert. Nun könnte man nach alter Sündentradition die hier anklingende Verzweiflung im christlichen Sinne durchaus für ‚böse‘ halten, was aber angesichts der aufklärerischen Tendenz des Buches ins Leere laufen muß. Erika Thomalla konstruiert daher am Ende ihres Beitrags zu Wezel eine andere Argumentation, nach der Wezel mit Belphegor ein böses Buch vorgelegt habe, weil in ihm eine „Inkohärenz von Erzählertheorie und Erzählverfahren“ auszumachen sein, ein „Schwanken des Erzählers zwischen auktorialem Gestus und Selbstrelativierung“, welche eine „Deutungsunsicherheit“ (S. 86) hervorrufe. Das Indifferente scheint also in der neueren literaturwissenschaftlichen Theorie der Königsweg zum Bösen – und diesen schreitet auch Joseph Vogl nach genussvoller de Sade-Lektüre weiter hinab. Bleiben doch nach der Lektüre seines Artikels zu Les 120 Journées de Sodom / Die 120 Tage von Sodom erhebliche Zweifel, warum ein Buch, zu dessen kulturgeschichtlicher Rechtfertigung Vogl nahezu den gesamten Parnass der modernen französischen Theorie, Foucault, Bataille, Deleuze und Lacan bemüht, zu den ‚bösen‘ gesellt werden solle, bei denen man es gleichwohl nach schlichter Schilderung der in ihm dargestellten sexuellen Brutalitäten und körperlichen Foltern in der hintersten Ecke hätte verbergen sollen. Zumal die hier von Vogl Deleuze und Lacan zugeschriebene Idee einer koindizierenden Opposition von de Sade und Kant auf einer Fehllesung Kants beruht. Kant und de Sade sein Auslöser einer moralischen Revolution nur in unterschiedliche Richtungen gewesen, insofern Kants kategorischer Imperativ wie de Sade angeblich den Bezug „auf ein höheres Prinzip“ (S. 101) aufkündige und „sich aus sich selbst heraus“ begründe und damit auch „nur aus sich selbst heraus gelten“ (S. 102) könne. Hier entgeht aber Deleuze wie Lacan und schließlich auch Vogl die Bedeutung des anderen bei der Formulierung von Kants höchster Handlungsmaxime. Die Beziehung zum Mitmenschen, das Eingebettetsein in eine kommunikative Situation bilden für Kant gleichwohl eine moralische Bezugsgröße, auf deren Demontage de Sade systematisch hinarbeitete.
 
Klaus Theweleit ist begeisterter Wilhelm Busch-Leser und teilt diese sympathische Eigenschaft mit einem MiIlionen zählenden Publikum. Seine Paraphrase von Max und Moritz. Eine Bubengeschichte in sieben Streichen liest sich als (eine heute sicherlich nicht mehr notwendige) Werbung für einen Text, dessen radikaler Individualismus zum preußischen Rigorismus seiner Zeit in scharfer Opposition stand. Für ‚böse Preußen‘ also ein ‚böses‘ Buch – und wird somit wie Gretchen in Goethes Faust „gerettet“! Schwieriger verhält es sich mit Waldemar Bonsels‘ Die Biene Maja. Waldemar Bonsels war ein übler Antisemit und spätestens ab den 1930er Jahren Propagandist der Nationalsozialisten. Dies wirft auch rückblickend auf sein 1912 erschienenes Kinderbuch wie auch auf dessen Nachfolger Himmelvolk (1915) ein verdüsterndes Licht. Gleichwohl geht für Helmut Höge, der freimütig einräumt, „die Abenteuer der Biene Maja […] auch deswegen als ein ‚böses‘“ Buch in den Sammelband eingebracht zu haben, „um dabei einige Bienenprobleme zur Sprache zu bringen“ (S. 138), dieses argumentative Heimspiel krachend verloren, wenn er als leuchtendes Beispiel gegen Bonsels Bienendiktatur ausgerechnet die „‘proletarische Biologie‘ des sowjetischen Gärtners Iwan Mitschurin und des bis in die fünfziger Jahre führenden Agrarbiologen der UdSSR Trofim Lyssenko“ (S. 141) anführt und die 5 Millionen Hungertote, die deren stalinistische Zwangskollektivierung verursachte, unerwähnt läßt. Als ähnlich politische Dampfplauderei entpuppt sich auch Michael Hagners Essay Paul Feyerabend. WIDER DEN MERTHODENZWANG (1975). Mit einem Faustschlag auf den Schädel, in dem Feyerabends Buch als „Songbook und Theorie-Apotheke […] gegen die wissenschaftlich-technologische Rationalität und für alternative Weltentwürfe“ (S. 143) sicherlich erheblich überbewertet wird. Feyerabend, der übrigens, wie oft fälschlich behauptet wird, das Schlagwort Anything goes keineswegs prägte, sondern Cole Porters gleichnamigem Musical aus dem Jahre 1934 entlehnte, Feyerabend also heutzutage für „Kreationisten, Klimaleugner oder Impfskeptiker“ (S. 151), für „Rechtspopulismus“ (ebd.), „Trump und Konsorten“ (S. 153) oder die „populistische Rebellion gegen die Fakten“ (S. 154) verantwortlich zu machen, stellt eine erhebliche unterkomplexe Beschreibung aktueller politischer Diskurse dar und rückt damit selbst in die Nähe postfaktischer Narrative – um im Jargon zu bleiben.
 
Als gleich sechsfach ‚böse‘ möchte Ute Holle den Roman Waiting for the Barbarians des südafrikanisch-australischen Nobelpreisträgers John Maxwell Coetzee entlarven. Coetzee, der das Pech hat, zugleich weiß und männlich zu sein, hätte besser keinen apartheidskritischen Roman geschrieben, in dem Mädchen gefoltert und männliche Richter als fragwürdige Helden dargestellt werden. Da hilft Coetzee wenig, daß sein Vater wegen apartheidskritischer Haltung seinen Posten in der Kapstadter Stadtverwaltung verlor, er selbst in den USA wegen seiner kritischen Haltung zum Vietnamkrieg verhaftet wurde. Sein Buch wird von Holle über alle kritischen Signale hinweg als subtile Affirmation der Macht ‚dekonstruiert‘. „Andersherum aber, dafür ist Coetzees Buch ein gutes Beispiel, kann ein Text mitmachen beim Machtergreifen, kann Schrift die Obszönität steigern, kann Vorlesen partizipieren an der Gewalt.“ (S. 155) Dabei muß dann die Handlung des Romans auch schon einmal auf die Meinungsstreckbank gelegt werden, wenn etwa behauptet wird, die handelnde männliche Person, ein Richter, stünde „jenseits von Gut und Böse, ungerichtet“ (S. 157). Was schlicht unterschlägt, daß dieser Richter am Ende des Romans selbst gerichtet und zum Opfers des Gewaltsystems wird. Überspringt man Gemeinplätze wie „in allen Migrationen wiederholt sich die Struktur des Barbarischen“ (S. 159) oder Foucault zugeschriebene Burlesken wie „Am Anfang jeder Wahrheit steht jemand, der irgendetwas kaputt macht“ (S. 161), so offenbart sich am Ende des Aufsatzes eine erschreckende Empathielosigkeit gegenüber den erzählten Figuren und dem von ihnen repräsentierten Schicksal: „Coetzess Beschreibung des gefolterten Vaters als beschämtem Vater reduziert den Schrecken des politischen Mordes […] auf ein kleinfamiliales neurotisches Schulterzucken“ (S. 176). Was ist schon eine konkrete Folter gegen die abstrakten Schrecken der Theorie! Armin Schäfers Aufsatz zu Thomas Bernhards Holzfällen. Eine Erregung verrät schon im ironischen Untertitel das Resümee, „keine nette Literatur“. Nein, das kann man Bernhard nun wirklich nicht nachsagen, daß er jemals ‚nett‘ geschrieben hätte. Obgleich noch einmal Lacan bemüht wird, um eine böse Spur im ‚Ablassen vom eigenen Begehren‘ zu legen, mündet diese doch nur in der Feststellung: „Das Unbewußte ist nicht nett“ – siehe oben!
 
Zum Beschluß des Bandes, quasi als Dessert zu einem mitunter schwer verdaulichen Mehrgängemenü, wird ein echter Hüser serviert. Diese saloppe Formulierung sei hier quasi antizipatorisch erlaubt, denn es bedarf nur einer geringen prophetischen Gabe vorauszusagen, daß Rembert Hüsers Texte in nicht allzu ferner Zukunft Kultstatus genießen werden, zeugen sie doch von im Wissenschaftsbetrieb kaum mehr begegnender Souveränität im sprachlichen Zugriff auf den Gegenstand, die sich vor allem dort offenbart, wo bei höchster grammatischer Korrektheit eine mitunter erlesen enigmatische Textoberfläche erzeugt wird. Seine leicht plaudernden Variationen über historische Comics in Strip und Film bringen nicht nur Begegnungen mit alten Bekannte mit sich, Felix the Cat oder die Schulbuchberühmtheit Billy Ball, sie ziehen auch mit eleganter Beiläufigkeit ein Resümee des Bandes: „Das Böse ist immer auch gespielt, ist immer auch Kinderkram“. Und dabei wollen wir es dann auch belassen.
 
Markus Krajewski und Harun Maye (Hgg.) – „Böse Bücher.“
Inkohärente Texte von der Renaissance bis zur Gegenwart,
© 2019 Verlag Klaus Wagenbach Berlin, 249 Seiten, Paperback – ISBN: 978-3-8031-3678-7
24,- €
Weitere Informationen: www.wagenbach.de