Seldwyla

Ulrich Kittstein – „Gottfried Keller - Ein bürgerlicher Außenseiter“

von Robert Sernatini

Gottfried Kellers inneres Seldwyla
 
Eine literarische Biographie zum 200. Geburtstag
des Schweizer Nationaldichters
 
Der Schweizer Gottfried Keller (1819-1890) gilt neben den beiden Deutschen Theodor Fontane (1819-1898) und Theodor Storm (1817-1888) – mit dem er ab 1877 übrigens umfangreich korrespondierte - als wichtigster Repräsentant des deutschsprachigen Realismus. Geprägt von Tradition und Kultur seiner Heimatstadt Zürich sowie den Ideen des eidgenössischen Liberalismus, entwickelte er nach ausgedehnten Abstechern in die deutsche Kulturwelt sein eigentümliches Ideal von Schweizer Bürgerlichkeit. Gleichwohl blieb Keller als Schriftsteller, politisch Engagierter, Patriot und Zeitkritiker ein gesellschaftlicher Außenseiter, der in seinen Werken auch die Abgründe der bürgerlichen Existenz aufdeckte. Sicher ist das von ihm gelebte Außenseitertum in großen Teilen seinem lebenslang unerfüllten Liebeswerben geschuldet, das ihn nach einigen tiefen Enttäuschungen zum Hagestolz werden ließ.
Während eines Gespräches unter Freunden über Italien und seine Frauen sei er von einem „tiefen Verlangen nach einem feinen heimischen Liebesglücke“ ergriffen worden, notierte Keller am 15. September 1847 aufschlußreich in seinem Traumbuch.
Seine Lyrik (Balladen, Naturerleben, Politisches, Bürgerliches) gehört, obwohl zu seiner Zeit höchst aktuell und verlegt, heute eher zum weniger überkommenen Teil seines Werkes, wohingegen seine Novellen und Erzählungen („Züricher Novellen“, „Die Leute von Seldwyla“) sowie die Romane „Der grüne Heinrich“ und „Martin Salander“ zum Kernbestand der deutschsprachigen Literatur geworden sind.
 
Ulrich Kittstein geht in seiner literarischen Biographie dem inneren Seldwyla Kellers auf den Grund. Er untersucht dessen Begriff von Kunst - schließlich hatte Kreller ja das Handwerk des Kunsmalers erlent, analysiert den Schlüsselroman „Der grüne Heinrich“, dessen beiden Fassungen ein phantastisches Unikum der Literaturgeschichte sind, den „modernen“ Roman „Martin Salander“, den bürgerlich-moralischen Erzählungszyklus „Die Leute von Seldwyla“ sowie das Frauenbild und die Geschlechterrollen in Kellers Werk. Kittstein zeichnet ein vielschichtiges Porträt des aus unglücklichen Lebensumständen zum gelegentlich skurrilen Hagestolz gewordenen Autors und Staatsschreibers, der jedoch mit seiner virtuosen Erzählkunst und seinem psychologischen Scharfsinn bis heute eine ungebrochene Faszination ausstrahlt (wenn auch nicht auf Schüler, die traditionell mit Erzählungen aus „Die Leute von Seldwyla“ überfordert werden). Zwar ein gekonnt ironischer, gerne auch bissiger Skeptiker, so doch auch ein lebens- und sinnenfroher Gourmand und dazu streitbarer Politiker hat Gottfried Keller die Schweiz literarisch und politisch auf dem Weg in die Moderne begleitet. Kittsteins Keller-Biographie ist ein hervorragendes Instrument, dem Dichter und Menschen Keller näher zu kommen und kann vorbehaltlos empfohlen werden.
 
Ulrich Kittstein ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Mannheim. Für seine Habilitation wurde er 2006 mit dem Preis der Universität Mannheim für Sprache und Wissenschaft ausgezeichnet. Sein Arbeitsgebiet ist die deutsche Literatur vom 18. Jh. bis zur Gegenwart mit den Schwerpunkten Lyrik, historisches Erzählen, Friedrich Schiller, Eduard Mörike, Gottfried Keller und Bertolt Brecht.
 
Ulrich Kittstein – „Gottfried Keller - Ein bürgerlicher Außenseiter“
© 2019 wbg Academic, 510 Seiten, Gebunden, mit Schutzumschlag und Lesebändchen,
mit Anmerkungen, Bibliographie, Register und Zeittafel im Anhang, 14,5 x 21,7 cm
ISBN 978-3-534-27072-9
48,- €  / 38,40 € Mitglieder