Eine Studie der sich hinschleppenden Verzweiflung

„Wo ist Kyra?“ von Andrew Dosunmu

von Renate Wagner

Wo ist Kyra?
(Where is Kyra? - USA 2017)

Regie: Andrew Dosunmu
Mit: Michelle Pfeiffer, Kiefer Sutherland, Suzanne Shepherd u.a.
 
Kyra ist alt, aber nicht uralt, wie ihre hinfällige greise Mutter, die sie in der gemeinsamen New Yorker Wohnung liebevoll und hingebend pflegt. Kyra ist Michelle Pfeiffer, die in wunderbarer Erinnerung immer so strahlend und hübsch und spritzig war (und als „Catwoman“ so sexy), aber dann – Jahrgang 1958 – in Hollywood gnadenlos als „alt“ aussortiert wurde, bestenfalls für Nebenrollen gut, die man auch spielt, wenn man irgendwie im Geschäft bleiben will.
Aber Kyra – das ist wieder eine wirkliche Rolle, das bedeutet, einen Film zu tragen, das bedeutet, durch die Faszination eines Gesichts und durch nuancierte Darstellungskunst das Publikum bei Interesse zu halten. Bei Laune – das geht nicht, denn die Geschichte von Kyra ist so tragisch wie sie nur sein kann, sie erzählt von Einsamkeit, Verlorenheit, Aussichtslosigkeit…
 
Dabei zeigt dieser Film von Regisseur Andrew Dosunmu eine Geschichte, wie sie in jeder Großstadt – nicht nur in dem Moloch New York – stattfinden könnte. Was macht man, wenn eine uralte Frau, die man liebt, Pflege braucht, man sich nichts anderes leisten kann, als der eigenen Hände und Seele Arbeit – aber dann auch nicht imstande ist, nebenbei einen Job auszuüben? Und dann ist die alte Frau tot. Es gibt ein paar Trauerbesuche. Was Kyra jetzt machen würde? Danke, sie kommt zurecht, sagt sie. Tut sie aber nicht.
Wenn man mit Zahlen auf Dokumenten trickst, kommen noch für die Tote Schecks. Es ist mühsam, weil sie nur in persona eingelöst werden sollten, man muß sich etwas einfallen lassen, denn das Geld wird knapp. In der Job-Agentur winkt man ab – schon ein bißchen zu alt, wenn man es auch mit anderen Ausreden bemäntelt. Woher nimmt man die Miete für die schöne, alte New Yorker Wohnung, in der Kyra ihr ganzes Leben verbracht hat und aus der auszuziehen, sie sich einfach nicht vorstellen kann und will… Das ist die Armutsfalle – und kein legitimer Ausweg.
Und Doug (Kiefer Sutherland, auch einer der Vergessenen des gestrigen Hollywood), mit dem sie in einer Bar sitzt und still vor sich hinklagt, läßt sich, obwohl gar kein krimineller Typ, in das hineinziehen, was Kyra in ihrer Verzweiflung plant.
 
Es ist so evident, daß man keinen Spoiler setzt, Kyra kann gar nichts anderes als zu versuchen, sich per Perücke und flüsternd in ihre alte Mutter zu verwandeln, als zwei Detectives vor ihrer Tür stehen, die die alte Frau sprechen wollen – es gab da doch Rätselhaftigkeiten bei dem Kassieren von Rente und Hilflosenzuschuß. Am Ende ist die Straße voll von blinkenden Polizeiwagen – viel mehr, als man braucht, um eine verzweifelte Betrügerin festzunehmen, die in dieser Welt nicht ein noch aus weiß.
Gewiß, der Regisseur legt den Film von Anfang an ein leise auf einen Krimi an – Kyra probiert Perücken, man denkt an „Baby Jane“, würde sich über eine Horror-Wendung nicht wundern. Etwa, daß die zwangsweise in ihre Mutter „eingehende“ Kyra überschnappt. Man würde hier und da für möglich halten, die Geschichte könne explodieren, wenn ein Mensch in der totalen Enge sich gewaltsam Luft macht. Aber alles bleibt im Halbdunkel (der Kameramann erzielt gespenstische Effekte in der Stadt und in der Wohnung), es gibt viel schweres, drückendes Schweigen. Man teilt Kyras Situation, man ist mit ihr eingesperrt in Ausweglosigkeit.
Es ist keine billig anklagende Sozialromanze (seht her, wie die Menschen unter Euch verkommen!), vielmehr eine Studie der sich hinschleppenden Verzweiflung, und diese geht dank dem müden Gesicht der Pfeiffer total unter die Haut – da weiß man es: Kennt man sie nicht in unserer Welt, die Menschen, die nicht weiter wissen, und geht an ihnen vorüber? Bei Kyra schaut man hin. Selten ist menschliches Elend so umweglos unter die Haut gegangen.

Vorschau    
 
Renate Wagner