Anekdote von der Liebe

von Karl Lerbs

© 1957 Carl Schünemann Verlag
Anekdote von der Liebe
 
Von dem Manne, um den es in dieser kurzen, aber seltsam ergreifenden Geschichte geht, ist uns nicht viel mehr überliefert, als daß er den herzhaft irdischen Namen Kohl führte und zur Zeit der Kaiserin Elisabeth als Professor der deutschen Sprache zu Petersburg wirkte. Dagegen wissen wir von ihm, was man von nicht vielen Lebewesen des irdischen Werkeltags sagen kann: daß ihn das Schicksal einmal mit dem herrlichen und furchtbaren Geschenk einer Leidenschaft bedachte, die ihn aus der gewissenhaften und nüchternen Alltäglichkeit seines Daseins emporriß und die Kraft seines Gefühls, die sonst wohl nach üblicher Menschenart in vielen trüben Feuerchen verflackert wäre, zu einer großen und wilden Flamme brausend auftrieb.
Dies widerfuhr dem Professor Kohl, als er einmal durch irgendwelche Beziehungen eine Einladung zu einer Hoffestlichkeit erhalten hatte und dabei in die Nähe der Kaiserin geriet: da fühlte er mit wunderlich lustvollem und schmerzlichem Erschrecken, daß der Anblick Elisabeths ihn wie ein himmlische: Feuerschlag bis in unergründete Tiefen seines Wesens traf. Der Brand freilich, der da entzündet war, konnte hier nicht sogleich hell und heiß aufschießen – aber er schwelte er griff um sich, er fraß und fand ungeahnte Nahrung, und schließlich war er eine schwere und sengende und düstere Flamme: so daß der Professor Kohl verstört und mit wachsendem Entsetzen merkte, wie sehr sein peinlich geregelter Alltag ihm zur Unmöglichkeit und zum wesenlosen Schattenspiel wurde, und wie eine gefährliche und furchtbar lockende Kraft ihn in abenteuerliche Bezirke riß.
     Man darf glauben, daß er sich mit ernstem Vorwurf zur Ordnung rief, vor der fremden und gefährlichen Lust seiner Träume am Tage ängstlichen Abscheu empfand und sich mit aller Kraft gegen die Erkenntnis wehrte, daß er mit einer nach bürgerlich-irdischen Begriffen wahnsinnigen und sträflichen Leidenschaft die Kaiserin liebte. Ja, liebte: so daß sein seltsames und strenges Schicksal seines ängstlichen Wehrens spottete und ihn aus allen gehüteten Bindungen trieb und ihn, einen Wirren und trunkenen und von seinen ratlosen  Freunden gemiedenen Mann, durch menschenleere Straßen jagte, über deren eisigem Dunkel ein mächtiger sternenüberflammter Himmel gleißte.
Wir weichen der betrüblich verwahrlosten Gestalt, die ihre sehnsüchtige Not und Beglückung mit stammelnden und rasenden und vermessenen Worten zu diesem Himmel emporschickt, nicht aus und lächeln nicht über ihr tolles Tun: wissen wir doch, daß die hohe Flamme in jeglichem Gefäß heilig ist und sich ihres Ursprungs aus dem Weltenfeuer rühmen darf. Vielleicht hatte eine Ahnung den Professor' Kohl gelenkt, als er eines Morgens, aus blicklosem Starren erwachend, vor sich das riesig gewölbte Portal einer Kirche sah und sich inmitten einer plappernden Schar zerlumpter Bettler fand, die, von gutmütig-grimmigen Wachen zurückgehalten, die Stufen umdrängten. Denn im Augenblick, da er seine Umgebung erkannte, sauste es mit klappernden Rädern und sprühenden Hufen und Gefunkel und Peitschenknall durch den kahlen Vorfrühlingstag heran, war da und hielt: blanke Karossen mit blitzender und sehr erlauchter Menschenlast. Dem Professor Kohl war, was sie herantrugen, ein verschwommenes Gewoge farbiger Schatten - bis auf eine Gestalt, die er durch aufschießende Tränen ganz deutlich und mit großer, feierlicher Klarheit sah: Elisabeth. Ihm aber war es nicht die Kaiserin, die über ein Reich von märchenhaften Maßen gebot, die gekrönte Abenteurerin, vor deren weltgeschichtlichen Affären er zu einem Nichts schrumpfte, und von der, wie wir Kundigen aus vielen Beispielen wissen, wirklich eine Welt ihn trennte: ihm war es die himmlische und irdische, die heilige und seinen zitternden Händen und Sinnen erreichbare Gestalt der Frau, die er liebte. Über den trennenden Weltenraum riß sein Sprung ihn hinweg, an verdutzten Wachen vorüber, mitten durch erstaunt zurückweichendes Gefolge - nieder zu ihren Füßen, hinauf zu ihren Knien.
     So lag er und wußte nicht, daß Tränen in seinen struppigen Bart strömten, daß sein abgezehrtes Gesicht von Glut überlodert war, daß er mit stoßendem Atem wilde und tiefe und heiße Worte stammelte, die niederzuschreiben keine Feder wagen darf. In diesen wenigen Augenblicken ergriff die Flamme der Erfüllung die ganze Kraft seines Lebens, schoß steilauf und erlosch. Er sah nicht, daß rings die Klingen aus den Scheiden fuhren, und daß der elegant geführte Degen Schuwalows ihm am nächsten war; er fühlte vielleicht, daß Elisabeths Hände sie mit einer schützenden Bewegung von ihm fernhielten und dabei einen Herzschlag lang sein Haar berührten; und er vernahm gewiß den Klang ihrer Stimme, wenn er auch nicht die Worte verstand, die wir hier aufzeichnen:
     „Wenn Sie diesen Menschen töten wollen, weil er mich liebt - was wollen Sie dann mit denen tun, die mich hassen?“ -
Wer das fernere Schicksal des  Professors Kohl wichtig findet, möge wissen, daß besorgte Freunde ihn, den ausgebrannten Rest eines glühenden Erlebnisses, auf dem leeren Platz vor der Kirche fanden und mit ängstlicher Hast nach Deutschland - man sagt, nach Haniburg - schafften, wo er sich selbst in einem stummen und leidlich vernünftigen und vom Geleucht eines sehr fernen Erlebnisses beglänzten Dasein überlebte - einem Dasein übrigens, das seine irdische Erhaltung einem von der Kaiserin Elisabeth ausgesetzten Ruhegehalt verdankte.
 
 
Karl Lerbs