Normannischer Nachmittag

von Karl Otto Mühl

Foto © Andreas Hermsdorf / pixelio.de

Normannischer Nachmittag VII

Eigentlich sind wir nur aus Sparsamkeit hier. Wir hatten die Ferienwohnung für unsere Enkelin gebucht, aber ihr Freund hat sie verlassen, allein wollte sie nicht fahren, das Geld war aber überwiesen, was sollten wir tun? Wir müssen diese zwei Wochen hier an der Küste in einem Fischerort absitzen und abliegen.
 
Die Flut rollt dröhnend gegen die Kaimauern an.
 
Die Böen zerren an der Wäsche auf dem Gestell im kleinen Innenhof, der von Mauern umgeben ist. Wir sind in der Normandie.
Die Fuchsien formen sich zu mächtigen Büschen und klettern wie todesmutige Landsknechtshaufen an den Mörtelmauern empor. Ganz nah stützt sich der Atlantik, hier noch Ärmelkanal, breit grinsend mit den Armen auf die Mauerbrüstung; vorsintflutliche Kanonenrohre auf Lafetten lauern immer noch an der Küste; weiter dahinter auf der kleinen Insel auch der Galgen, der als Vermutung in mir auftaucht, an dem vielleicht Kapitäne aufsässige Matrosen aufknüpfen ließen.
 
Aber über allem wabert Schläfrigkeit, der Nachmittag läßt sich die Herrschaft nicht entreißen. Er ist auf leisen Sohlen hereingeschlichen und hat mich beruhigend angeblickt, und nun sitzt er lächelnd in der Schlafzimmerecke.
 
Der sonnige Nachmittag und sein Geschenk, der kleine Schlaf, es sind gute Freunde. Der wohlig aufseufzende Nachtschlaf ist noch nicht in Sicht, aber diesen Nachmittagsschlaf kann ich zärtlich an mich drücken, und er nickt mir zutraulich zu wie eine liebevolle Großmutter. Sonst erledige ich viele meiner Pflichten zu dieser Zeit, aber an Nachmittagen wie diesem hier schaffe ich weitaus mehr, auch im Schlaf, versteht sich.
 
Ich schlage das Buch über Selbsthypnose auf, das neben mir liegt, und versuche, aufzustehen. Vergeblich, ich bin wie gelähmt.
Ich schlage das Buch noch einmal auf. Da steht: „Du kommst an einen unterirdischen Fluß, bleibst ratlos stehen.“
Aber schon treibt ein Kahn heran, der Fährmann fordert mich zum Einsteigen auf.
 
 „Ich fahre dich jetzt an einen Ort, den du noch nie gesehen hast. Wir werden aber nie dort ankommen, wenn du nicht versprichst, keiner Menschenseele davon zu erzählen.“
 
Ich habe mich vergewissert, daß der Tod nicht zu fürchten ist. Ich stehe im Nebel auf einem Sprungbrett oder einer Plattform, und meine zu wissen, daß ich freudig in diese Leere hineinspringen werde. Ich werde ja schon erwartet, viele freundliche Augen blicken mir hinter der Nebelwand entgegen, darunter viele, die mir verziehen haben, daß ich sie enttäuscht habe.
 
Dazwischen auftauchende Bilder von mächtigen, langblättrigen Pflanzen, knirschender Schotter vor den Festungsmauern der Festung Hougue vor unserem Fischerort, die karge Imbißbaracke mit Kaffee-Ausschank davor, betrieben von Bürger-Sinn, mein Weg auf der Landzunge dorthin, über kurzen Rasen und festgetretenen Lehmboden, die zutraulichen, niedrig hängenden Wolkenballen, die vielen alten, kleinen, grauen Häuser, auf die man sich verlassen kann, weil sie sich durch Jahrhunderte hindurch ihre Verdienste erworben haben. Sie alle sagen mir, daß ich in einer Welt der wohlwollenden Erscheinungen lebe, obwohl sicher sei, daß dahinter Kräfte wirkten, die wir ebenso wenig sähen wie Luft und Strom.
 
Beim Anblick des Wolkenhimmels habe ich eine Vision, auf der ist die Erde wieder eine Scheibe, von der aus man ins All springen kann. Die Leute strömen zum Rand. Als ich dann näher komme, sehe ich, wie sich alle am Rand festhalten und zappeln. Hier habe ich noch einiges vor mir. 
 
Man versteht, daß ich mich trotzdem stark fühle, ich, der dies alles überblickt. Das Sterben ist bereits bearbeitet, nun wende ich mich den gesellschaftlichen Verhältnissen zu. Von Wirtschaftskrise, Ausschreitungen, Unruhen und Demonstrationen habe ich heute in der Zeitung gelesen, die hier immer mit einem Tag Verspätung ankommt. Das macht nichts, denn es hat sich ohnehin nichts daran geändert, daß es stets Wenige auf Kosten Vieler besser haben.
Das alles wird sich ab jetzt ändern.
 
Ich werde den Neoliberalismus abschaffen und die Besitzenden dazu bewegen, ihr Vermögen in Stiftungen einzubringen, die das allgemeine Wohl fördern. So werde ich Bildungs-Rückstand, Altersarmut, Pflege-Notstand, Kranken-Elend und Ähnliches besiegen.
 
Parallel dazu habe ich mit meiner schon lange geplanten Diät begonnen und schon erste Erfolge gefühlt, als ich mein Brustfell mit Daumen und Zeigefinger erfasste. Später werde ich mich mit einem Stück Vollkornbrot, das mit einem Salatblatt bedeckt ist, begnügen. Ich fühle, daß ich als eine Mischung von Sattsein und Hunger leben werde, und das läßt Freiheit spüren, ja, Freiheit und Leichtigkeit.
 
Trotz meiner Weltverbesserungsarbeit taucht der Gedanke an Erholung und Abendessen auf. Es wird sich um Spinat, Artischocken, Radieschen und eine Schnitte Vollkornbrot handeln. Bei Janwillem van de Wettering habe ich von einer tibetanischen Weisheit gelesen, nach der es sich ein Mensch, der sein Leben organisiert hat, überall gemütlich machen kann, selbst in der Hölle.
Da treiben die Tibeter mit Entsetzen Spott, denke ich.
 
Mein alter Freund Egon hat nach Diät gelebt, wie ich es vorschreibe, und er ist trotzdem gestorben, sagt ein kleiner Teufel an meinem Ohr. Aber an meinem anderen Ohr höre ich ein Engelchen wispern: Vertu dich nicht! Ich war dabei. Der Himmel fing freudig an zu funkeln, als er sich näherte, der fröhliche, alte Mann. Vorher warf er die beiden Säcke mit Maden weg, die seine Wunden ausgesaugt hatten.
 
Überhaupt kann ich bei dieser Gelegenheit das Problem der gegenwärtigen Gesundheitspolitik mit erledigen. Vorübergehend würde ich alle Kranken in menschenfreundlichen Polikliniken behandeln lassen, aber mit meiner jetzt praktizierten Diät werde ich Krankheiten ohnehin eliminieren können. Was noch zu behandeln ist, werde ich nicht auf der molekularen Ebene vornehmen lassen, sondern auf der feinstofflichen. Bald wird man dieses Land und seine Leute nicht mehr wiedererkennen.
 
Es ist Zeit, daß die Mehrheit im Land aufsteht und die alten Strukturen zerbricht. Schließlich sind die Menschenrechte anerkannt. Nicht mehr sollten die um ihre Rechte betteln müssen, von deren Arbeit alle leben. Ab jetzt kommen die Persönlichkeitsrechte zu den Menschenrechten hinzu.
 
Ich besteige das Papamobil und fahre vorneweg an der Spitze der Volksmassen. Alles wird sich ändern.
Mitten in meiner Erledigungs-Arbeit werde ich durch ihre Stimme aus dem Wohnraum aufgeschreckt: „Schau mal durchs Fenster. Da geht ein Mann mit einem starken Tremor trotzdem ins Wasser. Mit Parkinson! Jetzt schwimmt er. Der gibt nicht auf.“
Es fängt schon an mit meinen Reformen, denke ich.
 
Bleibt noch ein düsteres Kapitel: Die Schuldigen, die Strafgefangenen, die Verurteilten. Sie lasse ich umquartieren in die Ferienanlagen von Umag, Antalya und Mallorca. Die dürfen sie nicht verlassen, ich will schon sicher sein vor ihnen. Aber mir liegt nichts daran, daß sie gequält werden. Wem nützt das schon? Nein, sie brauchen therapeutische Hilfe, und die könnte von pensionierten Unteroffizieren geleistet werden. Früher wurden die ja auch sogar Lehrer.
 
Nebenan wieder ihre Stimme: „Schau mal! Das sind ja fast hundert Autos! Ein Hochzeitszug. Sie hupen und fahren zum Fest. – Sieh mal, auf dem Autodach sind zwei Puppen in Hochzeitskleidung festgebunden. Was diesen Franzosen alles einfällt!“
 
Die Spaziergänger auf dem Deich lassen sich durch den Hochzeitszug nicht stören. Ein junges Paar spaziert vorbei. Das Mädchen blickt den jungen Mann neben sich amüsiert an. Ein Großvater folgt, er schiebt den Winzling von Enkel im Wagen vor sich her. Ich sehe Händchen, so groß wie kleine Streichholzschachteln. Daß man als Mensch so klein anfangen muß!
Jetzt folgt wieder ein junges Paar, auch mit Kinderwagen, er mit sich vorwölbendem Bauch, sie mit dem zufriedenen Gesichtsausdruck einer Matrone.
Das werdet Ihr alles noch erleben, denke ich der hupenden Autokolonne hinterher.
„Vorhin sah ich einen Stapel Holz. Helles Holz an den Schnittflächen. Ich dachte, das könnte der Sinn sein.“
„Oder wenn man einen Menschen hat?“ versuchte ich es unsicher.
„Kann sein. Aber da habe ich keine Erfahrung“, sagte Sagesse. Ich meinte, einen bitteren Zug in ihrem Gesicht zu sehen.
„Ich sah vorhin einen Regenwurm“, fügte sie hinzu. „Die feine Struktur der Muskelabschnitte, so glitschig-glänzend – ich dachte, das ist es noch mehr, also der Sinn.“
Ich weiß nicht, ob Sagesse wirklich klüger ist als ich.
 
„Sieh mal den älteren Mann mit dem roten Haarschopf“, höre ich es von nebenan. „So etwas siehst du bei uns nicht. Die Frau neben ihm sieht auch richtig französisch aus.“
„Die Franzosen sind überhaupt viel französischer als wir“, erwidere ich. „Sie machen dir Platz, wenn sie dir begegnen, sie verlangsamen lange vorher an Fußgängerstreifen, sie sagen Pardon – sagt bei uns jemand Pardon?“
„Du verlangst zu viel“, sagt sie. „Das machen sie vielleicht nur für Touristen.“
 
Vorhin die Vorstellung des tapferen Schwimmers hat mich erfreut. Aber jetzt schleichen sich neue Probleme heran. Ich darf mir die Todesart, nämlich meine, selbst aussuchen. Zuerst werde ich gefragt, ob ich dieses Leben noch einmal leben möchte?
Ich schüttele den Kopf.
Oder mit einem anderen tauschen, der noch weiterleben darf?
Wieder sage ich Nein.
Früher war ich da immer unsicher. Unentschlossen.
„Entschiedenheit, die fehlt mir“, sagte mein Freund immer. Entschiedenheit, klingt es vielstimmig aus dem Wald von Schiffsmasten im Hafen empor, Entschiedenheit, kräht auf dem Markt der steinerne Hahn auf der Säule. Ich krähe nicht, ich fühle nur, ich bin ein Chor von Stimmen, ich muß immer erst auswählen.
Aber jetzt merke ich, daß ich diesmal ganz genau weiß, was ich will.
 
Gut, es ist entschieden. Ich fordere, von zwei jungen Männern ins All geschossen und begleitet zu werden, und, schwupp, schon schieße ich los.
Landung auf einem Asteroiden, der nicht größer ist als ein Schrebergarten. Die Männer verabschieden sich höflich, meine Plattform zerplatzt. Jetzt sieht mich niemand mehr, demnach gibt es mich auch nicht mehr. Die wichtigste Frage bleibt, nämlich, ob ich mich wirklich endlich losgeworden bin. Aber was mache ich dann?
 
Inzwischen hat sie, die ich im Nebenraum rascheln höre, etwas Neues entdeckt: „Sieh mal, die alte Frau drüben am offenen Fenster! Sie schiebt den Möwen Futter in den Schnabel. Sie fliegen alle zu ihr.“
Ich weiß auch im Liegen, wie es hier draußen aussieht. Die Deutschen, die ich daheim auf der Straße sehe, halten gerne ihr Handy ans Ohr. Die Franzosen benutzen diese Hand zum Tragen eines Baguettes.
 
Der Mann mit dem zitternden Arm, die alte Frau mit den Möwen, sie sagen mit leiser Stimme ihr Ja zum Leben, denke ich.
 
Milde, rosige Dämmerung wie am Abend eines sanften Sonntags. Wer behauptet, die Welt sei heillos? Hier beweise ich ununterbrochen das Gegenteil.
Ich höre ihre Stimme nebenan: „Es hat aufgehört mit dem Regen. Wir können noch einen kleinen Gang zum Hafen machen.“
Gibt es Menschen, die einsam sind, die niemand ruft? Die nie mehr jemand rufen wird? Aber der Eiffelturm ertrinkt doch in hautwarmen, geflüsterten Liebesworten! Man braucht nur zuzugreifen. Der Vorrat reicht für die ganze Welt.
 
Als wir später vor der langgestreckten Holzbaracke vor Fort Hougue, die von den Bürgern als Imbißraum erbaut wurde, saßen, dachte ich: Ich bin nicht mehr der, der ich vor einer Viertelstunde war. Auch die Welt hat sich erneuert. Gleich werde ich auch nicht mehr der Jetzige sein, und nach einem Seufzer wird niemand mehr wissen, daß es mich gegeben hat.
Wie transparent kam ich mir vor, wie eine Zeichnung unter Glas, und dahinter schoben sich die Bilder der Gegenwart vorbei.
Wozu also die Gegenwart überhaupt ertragen, dachte ich mit einem Augenzwinkern, also nicht so ernsthaft wie Hamlet.
.
Im Watt sahen wir Muschelsammler. Um uns herum spielten französische Väter mit ihren Kleinkindern auf dem Rasen, sie tanzten sogar mit ihnen im Reigen.
 
Ich gehe auf der Landzunge in Richtung Fort Hougue. Die mächtigen, niedrig hängenden Wolken steigen als Phalanx am Horizont empor wie heraufziehende Heersäulen. Schiffe, die vor der Küste ankern, werden deutlicher, einige scheinen sich bei der beginnenden Flut näher ans Ufer zu trauen. Möwen überfliegen kreischend die Straße.
 
Ich bleibe stehen. Es gibt doch Momente des Glücks.
 
Am nächsten Morgen gehe sehr früh zum Hafen. Der große Platz davor ist menschenleer, hell ragen Masten; Segel und Schiffsrümpfe aus dem Wasser.
 
Ich erlebe das unheimliche, unwirkliche Lebensgefühl eines Menschen, der am sehr frühen Morgen den Hafen dieses Fischerstädtchens an der Atlantikküste betritt.
Die Morgensonne überglänzt es bereits, der Seewind umschmeichelt mein Gesicht. 
 
Kein Mensch ist zu sehen. Noch nie war ich so allein, noch nie so ohne Macht. Ich habe den vertrauten Boden nicht mehr unter mir, meinen Halt finde ich nur im Vorwärts-Gleiten. Was immer ich tun würde, es wäre, als wenn ich mit der Faust in einen Wattebausch schlüge.
 
Wie eine geduldige Herde drängen sich die Boote und Yachten am Kai zusammen, sie schaukeln in der Dünung. Am Horizont endet der schimmernde Ozean, der doch unendlich ist. Es herrscht überirdische Stille, in der sich nichts ereignet und alles geschieht.
Ich ahne, daß ein Schiff für mich kommen wird, das mich an Bord nehmen wird.
 
Etwas Ungeheures wird geschehen.
 
© 2017 Karl Otto Mühl