Lynchjustiz

Auszug aus dem Roman „Nackte Hunde“

von Karl Otto Mühl

Lynchjustiz
 
Auszug aus dem Roman „Nackte Hunde“
 
Im Morgengrauen zieht das Schiff gemächlich in den Hafen von Liverpool ein. Gustav behält nur den unendlichen Aufmarsch von gleichförmigen Giebeln und barock geformten Kaminaufbauten am Morgenhimmel in Erinnerung. Bald darauf sitzt er mit den Kameraden schläfrig im Eisenbahnabteil, bis der Zug mit den Gefangenen in London einläuft.
 
Sie steigen in einem Bahnhof aus, der nahe ihrem zukünftigen Camp liegt, zu dem sie marschieren, eskortiert von den englischen Wachmannschaften. Die Soldaten marschieren mit gleichmütigrem Gesichtsausdruck. Feindseligkeit ist nicht zu bemerken. Die Deutschen sind schließlich ungefährlich. Es gibt Hunderttausende von ihnen, aber noch nie hat man gehört, daß sie ihre Bewacher angegriffen haben.
 
Aber nicht alles scheint so friedlich verlaufen zu sein.. Im Zug ist von Kameraden im Abteil, die in Liverpool hinzugekommen waren, von einem großen Prozeß in einem U.S. Camp berichtet worden.
 
Ein deutscher Gefangener besaß einen Radioempfänger, mit dem deutsche Nachrichten abgehört werden konnten. Warum das so geheim war, versteht Gustav nicht, denn zumindest der deutsche Wehrmachtsbericht war in den amerikanischen Zeitungen, die jedem zugänglich waren, zu lesen.
 
Aber da dieser Radioempfänger nun einmal verborgen und natürlich nicht erlaubt war, holten ihn die Amerikaner auch heraus, nachdem es ihnen ein deutscher Denunziant verraten hatte.
 
Alles unnötig und sinnlos, sagte etwas in Gustav. Die Erdgeschichte geht weiter, bis grauer Staub die erkaltete Erde umhüllt, die Kontinente verschieben sich, die Inseln bröckeln ab, im Herbst werden die nicht geernteten Pilze schwarz, die Tiere rascheln ohne jegliche Weltgeschichte im Laub, das Lied der amerikanischen Sängerin ist verklungen, meistens weiß niemand mehr, warum gestern etwas so wichtig war. In Krefeld gibt es einen Verein ehemaliger Babylonier, aber Nebukadnezar hat nichts davon.
 
Trotzdem war die Geschichte mit dem Radioempfänger weitergegangen. Die deutschen Gefangenen fanden heraus, wer der Denunziant war. Irgendein Helmut war es gewesen. Der Kamerad im Abteil wußte nicht, wie es herausgekommen war. Gustav hätte es gerne gewußt. Vielleicht, weil er dann auf diesen Punkt achten wollte, falls er wider Willen einmal Denunziant wurde.
 
Nachts, im Dunkel, hatte sich eine Kleine Gruppe in die Baracke des Denunzianten geschlichen. Sie stopften ihm einen Knebel in den Mund und schleppten ihn in die Latrinenbaracke. Dort hängten sie ihn auf..
 
Die Amerikaner handelten rasch. Wie sie die Täter herausfanden, auch das erfährt Gustav nicht. Nur, daß die Verdächtigen lange und sehr intensiv verhört wurden. Man sperrte sie in Trommelwagen und fuhr mit ihnen durch das Gelände. In den Trommeln flogen sie von einer Seite auf die andere, immer gegen Metallwandungen. Das hielten die Gefangenen nicht lange aus, sie gestanden im Verhör. Alle Fünf wurden durch Erhängen hingerichtet.
 
Gustav kommt in dem Kleinen Camp an. Es heißt New Malden und gehört zu London. Ein Kleines Camp, das aus fünf Nissenhütten aus Wellblech besteht. Die Gefangenen werden auf drei Baracken verteilt, wählen sich jeder ein Metallbett und legen ihre Seesäcke mit ihrem gesamten Hab und Gut darauf.
 
In der vierten Baracke befinden sich der Heizungsraum und die Latrinen. Die fünfte Baracke ist etwas kürzer, da sind der Wachraum und ein Nebenraum zum Schlafen. Für das Wachpersonal, das aus einem Sergeanten und zwei Soldaten besteht.
 
Gustav hat wieder eine Heimat. Es ist immer noch eine Soldatenheimat, denn kurz nach der Ankunft müssen sie auf Geheiß der Trillerpfeife wieder antreten.
 
Ja, hören sie aus dem Mund des Dolmetschers, der Krieg sei ja nun verloren für die Deutschen. Wenn sie hier einige Jahre Gefangenschaft mit fleißiger Arbeit verbracht haben würden, dann sähen sie wohl weniger siegessicher aus als bisher? Versteht das jeder?
 
Und danach, in einigen Jahren also, könnten sie in anderen Ländern aufbauen, was sie zerstört hätten. Vielleicht würden die Männer aus diesem Lager dann erst einmal zehn Jahre in Polen arbeiten.
 
Nach dieser Rede dürfen die Gefangenen wieder in die Baracken. Gustav sitzt mit gesenktem Kopf auf der strohgefüllten Matratze. Auch die Kameraden sind still, oder sprechen nur leise.
 
Der Gedanke an jahrzehntelange Gefangenschaft liegt wie Blei in Gustavs Magen. In dieser Zeit werden die Eltern vielleicht sterben, Marlis wird einen fleißigen Handwerker heiraten, oder einen unzuverlässigen Schauspieler.
 
Gustav hat schon schwere Stunden erlebt, aber noch nie eine wie diese, in der er alle Hoffnung aufgibt. Er denkt, daß hinter dieser Hoffnungslosigkeit nichts mehr kommen wird. Wo immer in ihm ein kleines Gefühl, ein Gedanke, ein Gänseblümchen von Hoffnung der Kopf hebt, fällt es auch schon wieder zusammen.
 
Aber dann geschieht doch etwas. Er fühlt, wie er innerlich zu einer klaren, deutlichen einfachen Gestalt wird. Es ist ein frommes Gefühl, das ihn überkommt.
 
Er fühlt, daß diese Gestalt ihn ihm lebt. Gustav hat keine Hoffnung, aber er wird langsam froher. Er kann atmen, er kann aufstehen, er kann hinausgehen und in den klaren Himmel blicken, er kann sich auf das Essen freuen. Er meint. von nun an nie mehr Ungeduld, Langeweile oder Unbehagen spüren zu können. Er meint, bei sich selber angelangt zu sein.
 
 
© 2013 Karl Otto Mühl

Das Buch ist im NordPark Verlag erschienen: www.nordpark-verlag.de/