Angers im sanften Anjou (2)

Eine Reiseliebe

von Joachim Klinger

Angers im sanften Anjou (2)
 
Eine Reiseliebe - von Joachim Klinger
 
 
IV
 
Angers, heute die Hauptstadt des Départements Maine-et-Loire, war einst die Hauptstadt des Anjou, einer Grafschaft, die 1360 zum Herzogtum erhoben wurde, aber bereits 1481 wieder Teil des französischen Königreichs wurde.
Als ich 1970 erstmals Angers besuchte, gab es zwar Besuchergruppen, die das Schloß und seine Tapisserien-Sammlung besichtigten, aber der Tourismus wurde noch „kleingeschrieben“. Es gab ein städtisches Touristenbüro, das Führungen durch die Stadt und Fahrten in die Umgebung anbot. Wenn es für eine Fahrt nur drei Anmeldungen gab, wurde ein Taxi gestellt. Der Taxifahrer zeigte sich erstaunlich informiert und schmückte seine Ausführungen mit persönlichen Erlebnissen.
Auf diese Weise machte ich die erste Bekanntschaft mit dem Anjou, einer Landschaft, die durch die Fluss-Verläufe geprägt wird (Mayenne, Sarthe, le Loir), sanfte Hügel, kleine Wälder und verträumte Ortschaften hatte. Sie sagte mir so sehr zu, daß ich später jahrelang regelmäßig nach Angers fuhr und in Briollay mit der Familie den Urlaub verbrachte. Wir fanden dauerhafte Unterkunft in einem Anglerhäuschen (kein Bad), das sich ein Pariser Kaufmann hatte bauen lassen.
 
Das Anjou hat durchaus Sehenswürdigkeiten, die an Kunst und Geschichte interessierte Touristen begeistern können.
Eine meiner Busfahrten führte mich z.B. zum Schloß Serrant (erbaut zwischen 1546 und 1704). Der Renaissancebau birgt im Innern erlesenes Mobiliar, Gemälde und Tapisserien. Mich beeindruckte besonders das Schloß Le Plessis-Bourré, ein vierflügeliges, mit runden Ecktürmen bewehrtes Wasserschloß aus dem 15. Jahrhundert. Der aus der Gegend stammende Bauherr, Monsieur Bourré, war Finanzminister des Königs und also in Dienstgeschäften meist am Pariser Hof. Daher soll seine Frau beherzt die Bauleitung übernommen und die Raumgestaltung von einer zentral gelegenen Küche aus konzipiert haben.
 
Erwähnen will ich auch das erst kurz vor der französischen Revolution erbaute Schloß Montgeoffroy, das sich mit einer eindrucksvollen hellen Fassade präsentiert und wie z.B. auch das Schloß Brissac in Privatbesitz ist. Mancher Ort hat „sein“ Schloß, das für unterschiedliche Zwecke genutzt wird, z.B. als Museum in Villevêque oder als Verwaltungsgebäude in Baugé.
„Bescheidenere“ Bauten können auch das Auge erfreuen, wie z.B. die Wassermühlen in Grez Neuville und Villevêque oder vornehme Manoirs in Parkanlagen. Bemerkenswert sind auch die Dorfkirchen mit ihren oft korkenzieherartig geformten Turmspitzen, z.B. in Lué. Immer wieder einer Freude stille Fluß-Passagen, die zur Rast einladen, Holzstege, auf denen schweigsame Angler hocken, Ruheplätze unter riesigen Bäumen.
 
Auf unseren zahlreichen Radtouren haben wir uns nach dem Mittagessen oft schmale Holzbänke in Flußnähe und im Baumschatten für ein Schläfchen ausgesucht, z.B. in Châteauneuf-sur-Sarthe und in Juvardeil. Nicht zu vergessen: auch in kleinen Dorfgaststätten kann man gut essen. Immer eine Vorspeise, ein ordentliches Hauptgericht, danach Obst und Käse. Bei der Auswahl des Weins soll man der Empfehlung des Patrons folgen. Anstelle der vielen Restaurants, die uns bewirtet haben, sei einem einzigen ausdrücklich gedankt: A MA CAMPAGNE am Ortsausgang von Châteauneuf-sur-Sarthe, Richtung Juvardeil!

 

Jede Ortschaft im Anjou hat ihren verträumten Winkel, ihre eingesponnenen alten Gebäude, ihre Gärten mit ehrwürdigen Bäumen, ihre Kirchen mit aufragendem Turm und großem Schiff. Die Kirche in St. Denis Anjou z.B. ist ein wehrhafter Bau, die Kirche in Jarzé empfängt beim Eintritt sofort mit Orgelklang (vom Band), und die Kirche in Feneu lädt gern ein zum Platznehmen auf einer der hohen Holzbänke und Ausruhen. Im Anjou wurden wir heimisch.
 
 
V
 
Ein Gefühl von Heimat kann sich nur einstellen, wenn es freundliche Beziehungen zu den Ortsansässigen, inbesondere zu den Nachbarn gibt. Die Franzosen in Briollay und im Anjou überhaupt machten es uns leicht. Sie ließen sich gern auf ein kleines Gespräch ein, sei es in der Post, sei es im Lebensmittelgeschäft, in der Boulangerie oder in der Boucherie. Wir grüßten jeden auf unseren Wegen, wie es auf dem Lande üblich ist. Manchmal hatten wir den Eindruck, daß wir etwas mitleidig angesehen wurden. Später erfuhren wir von Freunden, daß uns mancher für „arme Schlucker“ hielt, weil wir kein Auto hatten, sondern radelten. Das erhöhte aber die Sympathie gegenüber uns, „les Allemands“. Es kam bald vor, daß wir auf ein Glas Wein eingeladen wurden, Einladungen zu einem Essen folgten. Auf Feindseligkeit trafen wir niemals, nicht einmal auf Vorbehalte.

 

Die Menschen des Anjou traten uns freundlich entgegen, waren gastfrei und von heiterer Lebensart. In einem alten Reiseführer (Polygott, „Tal der Loire“, 1. Auflage 1967) heißt es auf Seite 5:
„Die Menschen an der Loire legen besonnene Maßstäbe an alles. Sie geben allen Dingen und Menschen ihren rechten Wert und rücken sie an die ihnen zustehende Stelle. So schafft man Klarheit und eine Harmonie, die der Harmonie der Landschaft verwandt zu sein scheint ...“
 
Daß man brutales Handeln, Streitigkeiten und Gewalttaten ablehnt, entspricht dem eben skizzierten „Volkscharakter“. Meiner Frau und mir wurde dies bei dem folgenden Erlebnis veranschaulicht.
Ein befreundetes Ehepaar unternahm mit uns eine Spazierfahrt im Auto. Auf einer Landstraße hielten wir an. Monsieur V. zeigte auf ein stattliches Gehöft in den Feldern und sagte: „Das könnte uns gehören!“ Wir fragten: „Wieso?“ Die Antwort: „Unsere Vorfahren haben das Angebot des adeligen Grundherrn ausgeschlagen. Er wollte es ihnen aus Dankbarkeit für seine Rettung schenken. Sie hatten ihn nämlich in der Zeit der Revolution versteckt und vor der Guillotine bewahrt.“ Er fügte hinzu: „Sie wollten das bleiben, was sie waren: einfache Landarbeiter.“
Kein Einzelfall! Der Besitzer des Schloßes Montgeoffroy, ein französischer Marschall, wurde auch von seinen Leuten versteckt gehalten und vor dem Schlimmsten bewahrt.
 
Friedliche Gesinnung und freundliche Großzügigkeit auch in späteren Zeiten? Es sieht ganz so aus. Nach der Befreiung Frankreichs von deutschen Truppen im zweiten Weltkrieg sollen „Kollaborateure“ vor Gerichten in Angers einigermaßen glimpflich davongekommen sein. Drohte z.B. Zeitungsredakteuren, die sich auf Nazipropaganda eingelassen hatten, in Toulouse oder Marseille die Todesstrafe, so wurden sie in Angers auf einige Jahre ins Gefängnis geschickt.
Verheißt harmonische Einstellung Langlebigkeit? Man möchte es glauben. In einem Bildband über alte Menschen (z.T. Hundertjährige) des berühmten französischen Fotografen Felix Nadar (1820–1910) erscheinen vorwiegend Bewohner des Anjou!
 
Es gibt eine köstliche Anekdote, die uns die ausgeglichene Wesensart und heitere Gelassenheit der Menschen aus dem Anjou vor Augen führt:
Eine Frau stürmt wutentbrannt aus ihrem Haus, stellt die Koffer ab und blickt zurück. Auf dem Dach arbeitet in schöner Gemütsruhe und mit großer Sorgfalt ein Dachdecker.
„Ich verlasse meinen Mann, dieses Scheusal“, schreit die Frau, „und gehe zu meiner Mutter!“
Der Handwerker blickt auf, lächelt und deutet in den strahlendblauen Himmel. Dann sagt er: „Madame haben sich für diese schwere Entscheidung wunderbares Wetter ausgesucht.“
 

© Joachim Klinger - Frühjahr 2019
 

Anmerkung:
Meine Ausführungen stützen sich hinsichtlich der Daten und Fakten auf den Polygott-Reiseführer „Tal der Loire“, Polygott-Verlag Köln und München, 1. Auflage 1967,
das Büchlein „Tapisserie von Angers“ von Monique Stucky, Hallwag Verlag Bern – Reihe Orbis Pictus Band 58 1972 und „Les Domaines de Jean Lurçat 1966/1986 herausgegeben vom Nouveau Musée Jean Lurçat et de la Tapisserie Contemporaine