Nazis sterben nie

Geraldine Schwarz – „Die Gedächtnislosen. Erinnerung einer Europäerin“

von Johannes Vesper

Nazis sterben nie

Ungewöhnlich, daß sich heutzutage eine 45jährige bereits an Europa erinnert. In Europa könnte es aber politisch auch tatsächlich besser laufen. Nicht nur der unsägliche Brexit, nein auch die Wahlerfolge rechts-populistischer, europafeindlicher Gruppen in Italien, Österreich Frankreich, Ungarn, natürlich auch in Deutschland und neuerdings auch in Spanien stimmen die 45jährige Autorin dieses Buches nachdenklich. Mit dem Versprechen auf Auflösung der EU bzw. dem Austritt der Länder glaubt man Wählerstimmen zu gewinnen. Handelt es sich bei dem Buch der Journalistin Geraldine Schwarz um einen Roman oder um ein Sachbuch? Das Werk erhielt in der Kategorie „Roman“ den Preis des Europäischen Buches.

Persönlich betroffen von der eigenen Familiengeschichte, vor allem vom Leben der Großeltern, die sie persönlich gar nicht kennengelernt hat, ist sie heilfroh, daß sie, 1974 in Straßburg geboren, die Geschichte Europas zu Zeiten Nazi-Deutschlands bzw. des 2. Weltkriegs nicht persönlich erlebt hat. Die Familiengeschichte von den Großeltern bis hin zu ihr selbst recherchierte die Autorin umfangreich und schrieb sozusagen daran entlang eine Ideen-Geschichte Europas. Ihr Großvater mütterlicherseits war Gendarm im Vichy-Regine und der Großvater väterlicherseits, namens Karl, hatte 1938 im Zuge der Pogrome vom 10./11. Nov. 1938 eine Firma von vertriebenen Juden in Mannheim gekauft. Dabei waren Karl und seine Frau keine Nazi-Bonzen, keine KZ-Aufseher, gehörten weder zur SA noch zur SS. Sie sahen sich als einfache Deutsche, profitierten und organisierten ihr Leben als Mitläufer im Strom der Zeit, des Antisemitismus und der Nationalsozialisten. Hitler wurde von solchen Leuten gewählt. Wähler und Mitläufer ermöglichten die ungeheuren Verbrechen in Nazi-Deutschlands, der Vichy-Regierung in Frankreich und des Faschismus Mussolinis in Italien. Dabei war Hitler sich zunächst nicht sicher, wie seine Deutschen dachten und testete ihre Reaktion im Oktober 1940 mit dem öffentlichen Abtransport mehrerer tausend Juden aus Südwestdeutschland in das französische Sammellager Gurs, eines von rund 100 Internierungslagern entlang der französisch-spanischen Grenze. Die deutsche Bevölkerung tolerierte diese Aktion, und das Unheil nahm seinen Lauf. Von 69 Millionen Deutschen wurden ca. acht Millionen Mitglied in der NSDAP. Die Alliierten hatten nach Kriegsende ca. 300.000 Parteigenossen und SS-Angehörige in Gefängnissen festgesetzt, die einem Verfahren als tätige Verbrecher entgegen sahen. Die Haupttäter wurden in Nürnberg verurteilt. Die Zahl der Mitläufer überstieg die der aktiven Verbrecher also erheblich. Aber nur dank der Unterstützung durch Mitläufer konnte Deutschland die Untaten, wegen derer es nach dem Krieg aus der Gemeinschaft anständiger Nationen hätten ausgeschlossen werden können, vollbringen. Wie weit die deutsche Bevölkerung damals als aktive Verbrecher und „willige Vollstrecker“ das Regime unterstützt hat, hat Daniel Goldhagen schon in den 90er Jahren belegt. Und die damalige Ausstellung „Vernichtungskrieg . Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944“ zeigte, daß auch die Wehrmacht verbrecherisch und zuletzt unabhängig von der SS gegen Juden, Zivilisten, Kriegsgefangene und „slawische Untermenschen“ vorgegangen war. Zu den deutschen Untaten gehören nicht nur 6 Millionen umgebrachte Juden. Insgesamt kamen ca. 70 Millionen Menschen infolge des nationalsozialistischen Wahns um, bis zu 20 Millionen in der Sowjetunion und 16% der polnischen Bevölkerung. Allein bei der Belagerung von Leningrad verreckten 1,5 Millionen Menschen. Da war die deutsche Bevölkerung mit 400.000 zivilen Bombentoten und ca. 5 Millionen gefallener deutscher Soldaten weniger betroffen. „…der Tod ist ein Meister aus Deutschland und sein Auge ist blau / er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau…“ schrieb Paul Celan, bevor er nach seinem vermutlichen Freitod 1970 aus der Seine gezogen wurde.

Wie weit die deutsche Gesellschaft nach Kriegsende von mehr oder weniger aktiven Nazis durchsetzt war, versuchte die die Autorin von ihrem deutschen Vater - deutscher 68er und Kind von Mitläufern - zu erfahren, der als 15jähriger Eugen Kogons Darstellung und Analyse des KZ-Systems gelesen hatte. Zeitzeugen werden zitiert und die nach 1945 jahrzehntelang fortdauernde Nazi-Durchsetzung der deutschen Gesellschaft durchleuchtet. Vielleicht doch eher Sachbuch? Über den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer wird berichtet, der unter lauter lebenden und im Rechtssystem der jungen BRD weiter tätigen Nazis gegen die Täter von Auschwitz und gegen Eichmann ermittelte. Den Treblinka-Prozess in Düsseldorf besuchten und diskutierten damals Schüler, die aber das Ausmaß der nach wie vor bestehenden deutschen Nazifizierung nicht verstanden. Christian Bommarius schrieb erst jüngst seine elegante Analyse zu diesem Thema („1949: das lange deutsche Jahr“) und Frau Merkel hängte noch in diesen Tagen Bilder des Nazi-Sympathisanten Nolde ab.
 
Mit umfangreichem, sorgfältig recherchiertem, überreichem Material in diesem glänzend und sehr lesbar geschriebenen Buch zeigt die Autorin die historische Tiefe der deutschen Rechten. Man erfährt andererseits aus Frankreich, welche Schwierigkeiten dort bei der Beurteilung von Kollaboration, Vichy und Resistance bestanden und bestehen; aber vor allem auch über Italien, Ungarn und Österreich wird diesbezüglich berichtet, die sich bezüglich eigener Verfehlungen vielleicht auch hinter dem Haupttäter und Hauptverursacher Deutschland verborgen hatten.
Die Autorin vermutet, daß unzureichende Vergangenheitsbewältigung und fehlende Kenntnis der Geschichte ursächlich für den neuen rechten Populismus Europas verantwortlich sind. Nur in Kenntnis der europäischen gemeinsamen Geschichte seit dem 2. Weltkrieg könne Europa aber seine Zukunft bewältigen, welche mit dem Schicksal vieler, vieler Flüchtlinge, die immer wieder zu Hunderten im Mittelmeer ertrinken, auch zukünftig eng verbunden sein werde. Sie hofft, daß in Kenntnis der eigenen grausigen Historie die europäischen Länder gemeinsam die Probleme des afrikanischen Exodus angehen und bewältigen wollen - und weiter, daß Deutschland mit Angela Merkels Zuversicht und der Hilfe von Bürgern, wie jene, die sich 2015 der damals 1 Million Flüchtlinge hilfsbereit und wohlwollend angenommen haben, die „Rolle als Bewahrer der Menschlichkeit“ in Europa weiter spielen kann. Alle Europäer sollten wissen, was es bedeutet, „im falschen Augenblick geboren, der Gnade von Tyrannen ausgeliefert zu sein, die willkürlich über Leben und Tode verfügen“. Die rein ökonomische Ausrichtung europäischer Einheit auf Börsenwert, Wirtschaftskraft, Absatzmarkt und dergleichen mehr führt die Protagonisten ins Gefängnis (siehe VW, Renault, Audi) und Europa nicht weiter, Wachstum und Gewinnmaximierung allein und um jeden Preis reichen nicht. Das Buch gibt zu vielerlei Überlegungen Anlaß - und „Nazis sterben nie“ lautet das letzte Kapitel.

Inzwischen wurde das Buch in acht Sprachen übersetzt. Ausgezeichnet mit dem Prix du livre européen 2018 und mit dem Winfriedpreis der Stadt Fulda sowie von der Dr.-H.-G.-Waider-Stiftung.
Sehr empfehlenswert.
 
Geraldine Schwarz – „Die Gedächtnislosen. Erinnerung einer Europäerin“
(Les Amnésiques) - deutsch von von Christian Ruzicska
© 2018 Secession Verlag, 2. Auflage, 445 Seiten, ISBN 978-3-906910-30-7
28,-€
 
Weitere Informationen: www.secession-verlag.com