Der Heilige Berg

Eine Reise unter die Erde

von Jürgen Kasten

Der Autor in tiefer Höhle - Foto © Sascha Becker
Der Heilige Berg

Im Höhlenlabyrinth der Hardt
 
Unter der Erde duzen wir uns. Ich bin der Ulli.“
Ulrich Brämer sagt das. Der Diplom-Ingenieur gehört zum Vorstand des AKKH. Das Kürzel steht für den Arbeitskreis Kluterthöhle. Wir haben uns heute Abend hier verabredet, um die Wuppertaler Hardtkaverne und die tiefe Hardthöhle zu besichtigen. Das „Besichtigen“ trifft auf mich zu, Ulli Brämer und seine zwei Begleiter sind aus professionellen Gründen hier. Zwar arbeiten alle Mitglieder des Arbeitskreises ehrenamtlich, viele auch aus Hobbygründen, und doch ist ihre Arbeit aus wissenschaftlicher Sicht zu betrachten. Sie betreiben Speläologie, also Höhlenforschung, vermessen und kartieren sie, untersuchen die geologischen Aufschlüsse, den Wasserfluß und sammeln Erkenntnisse zur Entstehungszeit.
329 Höhlen betreut der Arbeitskreis inzwischen, überwiegend im Bergischen Land und im Sauerland; aber auch anderenorts und sogar im Ausland. In Syrien, Laos und Kambodscha zum Beispiel machten sie vergessene Tempel in Höhlen ausfindig.
 
Die große Hardthöhle in Wuppertal betreuen die Forscher schon lange. Das Höhlenlabyrinth mit seinen über 4 km langen Gängen wurde bereits 1937 unter Naturschutz gestellt. Der Zugang befindet sich auf dem „Heiligen Berg“ inmitten der Missionsstraße, nahe der kirchlichen Hochschule. Früher war dort die „Barmer Mission“ ansässig. Aus dieser Zeit stammt auch der Name „Heiliger Berg“. Daß dort im Mittelalter ein Galgen stand, sei nur am Rande erwähnt.
Die „tiefe Hardthöhle“, die wir heute begehen oder vielmehr bekriechen wollen, steht erst seit 2015 nach einem langen Genehmigungsverfahren unter Betreuung des Arbeitskreises, denn das gesamte Areal gehört den Wuppertaler Stadtwerken. Die wollten in den Sechziger Jahren, in Zeiten des „kalten Krieges“, im Berg ein atomsicheres Kraftwerk bauen. Sie sprengten einen 230 m langen Tunnel in den Fels, die Kaverne, und begannen am Ende, 80 Meter unterhalb des Bismarckturms, sich nach oben zu arbeiten. Die Abluft wollten sie durch einen Schornstein ableiten, der im Turm versteckt sein sollte. Das Projekt wurde irgendwann abgebrochen. Die Kraft des aus dem Berg abfließenden Wassers reichte angeblich nicht aus, die Flugzeugturbinen anzutreiben, die elektrische Energie erzeugen sollten. Das Wasser, das nach wie vor fließt, auch wenn es nicht regnet, wird nun in einem Bachbett seitlich des Tunnels weiter in die Wupper geleitet.
 
Der Eingang zur Kaverne befindet sich einige Meter von der Straße Hardtufer entfernt im Hang des Berges. Eine stabile Baustellentür aus Metall sichert den Eingang. In der Vergangenheit habe es einige Einbrüche gegeben. „Wahrscheinlich Abenteuer suchende Jugendliche“, mutmaßt Ulli Brämer. „Was treibt Sie an, unter die Erde zu gehen?“, will ich wissen. „Forscherdrang und vor allem das Erlebnis, Räume zu betreten, die zuvor noch kein anderer Mensch gesehen hat.“
Zu sehen ist zunächst ein langer, breiter und hoher Gang, dessen Wände und Decke mit Wellblech verkleidet sind, ähnlich einem Stollen im Bergbau. Der Boden ist schlammig und teilweise mit Wasserpfützen besetzt, in denen weiße Larven zu krabbeln scheinen. „Höhlenflohkrebse“, erklärt Ulli Brämer, „ein deutliches Zeichen für das Vorhandensein von Höhlen“. Tatsächlich wurde während des Tunnelbaus eine solche angeschnitten. Sie verläuft in Ost/Westrichtung rechts und links des Tunnels. Im Fels eingeschlossener Kalksandstein läßt Hohlräume vermuten.  Kohlensäurehaltiges Wasser tropft herab. Durch die Versinterungen bilden sich Stalagtiten, die schon  zentimeterlang sind. Eine Faustformel besagt, daß Stalagtiten in 100 Jahren ca. 1 cm wachsen. Das ist hier widerlegt, denn der Tunnel ist ja noch keine 60 Jahre alt.
Einen Teil der metallenen Wandverkleidung der Kaverne haben die Höhlenforscher demontiert. Der Fels dahinter zeigt farbige Einschlüsse. Sie deuten auf das Vorhandensein von Kupfer, Eisen und anderen Mineralien hin. An einer Stelle sind in beiden Tunnelseiten bogenförmige, farblich abgesetzte Linien erkennbar. Sie bezeichnen die Aufwerfung des Berges, sind in etwa identisch mit dem tatsächlichen Verlauf der Hardt.


Hardtkaverne:  Helm ab, ausatmen, durchquetschen Foto © Ulrich Brämer

Nun aber zu Höhle. Ihr Eingang ist über eine Leiter, ca. 3 Meter über Grund erreichbar. Der Höhlengang rechterhand ist zwar frei, aber nur schwer zu durchqueren, weil dort ein ständig fließender Bach verläuft. Der Gang linkerhand dagegen ist frei, allerdings so eng, daß man nur kriechend vorwärts kommt. „Uns reichen 20 cm Höhe und 40 cm Breite, um ihn zu durchkriechen“, sagt Ulli Brämer. Viel mehr Platz läßt er auch nicht. Mit meiner Fahrradregenmontur, Stiefel, Handschuhe und Helm mit Lampe glaubte ich ausreichend ausgestattet zu sein, bleibe aber an jeden kleinen Vorsprung hängen. Die Hose rutscht in die Kniekehlen, Arme und Beine verschrammen und am Ende der Tour sehe ich aus wie durch ein durch ein Schlammbad gezogener Erdschrat. Aber es ist ein Erlebnis der besonderen Art. Mit jedem Meter werden die Fossilieneinschlüsse im Felsen zahlreicher. Der Rückenpanzer eines Nautilus, Schwämme und Muscheln sind erkennbar, auch Eindrücke von anderem Kriechgetier. Hunderte Millionen Jahre sind sie alt und zeugen von einem Meer, das sich hier einmal befand. Über hundert Meter haben die Höhlenforscher inzwischen freigeräumt, wähnen sich allerdings noch nicht am Ende, denn die Bewetterung läßt eine größere Höhle oder auch eine Verbindung zur großen Hardthöhle vermuten. Mühsam mußte der schlammige Gang freigeräumt werden, der am Ende nach oben Richtung Süden abbiegt. Deutlich strömt von dort Luft hinein. Die letzten 10 Meter bleiben mir verwehrt. Ich rutsche in dem inzwischen aufrecht zu begehenden Gang immer wieder weg und kann einen ca. 1 ½ Meter hohen Absatz nicht überwinden. In einer Gangkehre bleibe ich hocken und warte unendlich lange bis die anderen Höhlenforscher am Ende Steine beiseite räumen, messen und fotografieren, bevor es zurückgeht. Ich wußte, daß ich Höhenangst habe, Höhlenangst stellte sich dagegen nicht ein. Allein in 80 Meter Tiefe im Berg, in einem dunklen engen Gang, das war ein erhabenes Gefühl. Das wird nicht für jeden nachvollziehbar sein; aber die große Höhle und die Kaverne können besichtigt werden. Bisher fand jedes Jahr am „Tage des Geotops“ (15.09.2019) eine Führung unter Federführung des städtischen Umweltamtes statt.


Versinterungen in Kaverne Foto © Jürgen Kasten

Unsere Exkursion machten wir Mitte April, um die winterschlafenden Fledermäuse nicht zu stören. Gesehen haben wir keine. „Sie verstecken sich in den Bohrlöchern der Kaverne“, erklärte Ulli Brämer. Gesucht hatte ich mit diesem Abenteuer Inspirationen für einen neuen Kriminalroman, „und tatsächlich“, so der Höhlenforscher, „wurde vor Jahren in der großen Hardthöhle eine Leiche ohne Kopf gefunden.“ Der Arbeitskreis berichtet darüber in seiner nächsten Informationsschrift.
 
Informationen:www.akkh.de, www.wuppertal.de 
Ein Video, das die Entdeckung der tiefen Hardthöhle dokumentiert, ist auf youtube zu finden:  https://www.youtube.com/watch?v=mEzVxjxOmeI