Hans im Glück?

Zwiespältige Deutungen eines weltberühmten Textes

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Hans im Glück?
 
Zwiespältige Deutungen eines weltberühmten Textes
 
Von Heinz Rölleke
 
Als der SPD-Politiker Hans Eichel Bundesminister der Finanzen war (1999 – 2005) titelte eine große Tageszeitung angesichts eines scheinbaren Aufschwungs der Bundesfinanzen: „Hans im Glück“. Damit war auf eine berühmte Geschichte in den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm angespielt, und zwar in der gewiß berechtigten Erwartung, daß jeder Leser diese kenne. Ob indes jeder Leser aus dem alten Bericht von Reichtum und Armut eines Einfältigen die gleiche Intention erkennen würde, darf man bezweifeln, denn es gibt wohl keine (allein) zutreffende Deutung der Geschichte.
 
Das hat verschiedene Gründe. Obwohl „Hans im Glück“ dank seiner Plazierung in der Grimm'schen Sammlung stets einer der beliebtesten und bekanntesten Titel war und ist, handelt es sich um kein „Märchen“, als das die Nr. KHM 83 immer wieder gedankenlos nach der Devise, was die Grimms unter dem Buchtitel „Märchen“ veröffentlichten, müsse jedenfalls ein Märchen sein, vereinnahmt wird. Das oberste Gattungsgesetz, nach dem ein Text als (Volks)Märchen bezeichnet werden kann, ist das ohne weiteres vorausgesetzte und wahrgenommene Wunder. Ein solches begegnet Hans, dem Helden der Geschichte, nicht. Er trägt zwar den Allerweltsnamen wie manche Grimm'sche Figur (u.a. „Hans Dumm, „Hans mein Igel“, „Hänsel“), teilt aber deren typisches Schicksal nur partiell: Er zieht zwar wie jede zum Glück prädestinierte Märchenfigur aus, sein Glück zu suchen, gewinnt es vorübergehend durch seiner Hände Arbeit statt durch ein Wunder und verliert es dann sukzessive durch Infamie seiner Mitmenschen und eigene Dummheit. Das heißt, er macht sein Märchenglück und findet sein Happyend nicht in der Fremde, denn er bleibt nicht dort, sondern kehrt so mittellos zu seiner Mutter zurück, wie er vor sieben Jahren ausgezogen war.
 
Die Grimms gewannen den Text für die zweite Auflage ihrer Märchen im Jahr 1819. Zu ihrem Quellentext „Hans Wohlgemuth“ merkten sie an:
 
            „Aus mündlicher Ueberlieferung mitgetheilt (von Aug. Wernicke) in der Zeitschrift Wünschelruthe 1818 Nr. 33.“
 
Damit rekurrierten sie auf den Untertitel bei Wernicke (1794 - 1819), der seine Schwankerzählung „aus dem Munde des Volkes“ gehört haben will. Sollte dem so sein, so könnte es sich wohl ausschließlich um den Plot der Erzählung gehandelt haben: Die Erzählung Wernickes zeigt jedenfalls durchaus künstlerische Züge, wie sich allein schon im durchdachten Aufbau zeigt. Hans verliert den redlich verdienten Goldklumpen an einen Reiter, also einen Vertreter höheren Standes; die Kuh für das Pferd bietet ihm ein offenbar gutsituierter Bauer an; als Partner, die den wirklichen Wert ihrer angebotenen Gaben gegenüber den für Hans im Mittelpunkt stehenden augenblicklichen Gebrauchswert verschleiern, erscheinen weiter in absteigender sozialer Stellung ein Metzger, ein Bursche und zuletzt ein mittelloser Scherenschleifer. Die Begegnungen und die für Hans ökonomisch allemal übler ausgehenden Tauschgeschäfte sind in Form einer Antiklimax meisterhaft gereiht und erzählt. Daß Wernicke in diesem Zusammenhang dabei auch auf ältere Motive gestoßen sein muß, erhellt zum Beispiel aus einer Textstelle in der berühmten mittelalterlichen „Helmbrecht“-Dichtung aus dem 13. Jahrhundert: „ê dû gebest umb ein gans / ein geroubtes phärit“ (Hans tauscht zwar sein Pferd um eine Kuh, das angeblich geraubte Schwein allerdings gegen eine Gans). Die Grimms haben im Verlauf ihrer weiteren Märchenauflagen bis 1857 wenig an diesem Text zu ändern gefunden.
 
Damit ist eindeutig klar, daß man das Geschehen um den einfältigen, aber nach seiner Selbsteinschätzung schließlich glücklichen Hans nicht als Volksmärchen klassifizieren kann: Der Text ist weder alt noch anonymer Herkunft, und er bietet, wie gesagt, kein Wunder: Alles spielt sich im realistischen Bereich ab. Das hat jeglicher Deutungsversuch vorab zu berücksichtigen, um nicht fälschlich Parameter der üblichen Märchendeutung einzubringen.
 
Hans zeigt zwar Züge des typischen Märchenhelden, der sein Glück stets in der Fremde sucht und findet, aber er genießt dieses fortan nicht fern seiner Heimat, sondern er kehrt mittellos zu seiner Mutter zurück. Nach dem Märchenmaßstab ist er damit ein vollkommen Gescheiterter, wie die Stiefschwestern in „Frau Holle“ und in „Die drei Männlein im Walde“, die ihr Märchenglück verpassen und als unreife und schlichtweg dumme Versager in den Schoß ihrer Familie zurückkehren müssen. So gesehen, ist das Wort „Glück“, das nur hier im Titel eines Grimm'schen Textes begegnet, pure Ironie. Hans ist ins Unglück geraten, ohne es selbst zu bemerken.
 
Auf dieser Basis bietet sich eine Interpretation des Textes an, die auf eine Allegorie eines glücklosen Spekulanten zielt: Wie jemand an der Börse im Handel mit seinen Wertpapieren immer wertlosere Aktien eintauscht, bis er am Ende gar nichts mehr hat, so ergeht es Hans, der indes nicht glücklos spekuliert, sondern von raffinierten Geschäftspartnern getäuscht und betrogen wird.
 
Ein zweiter Interpretationsansatz für die Geschichte im Grimm'schen Kontext (und nicht in Form der Wernicke'schen Geschichte!) bieten das Finale der Geschichte sowie Name und Charakter des Helden der Geschichte, von dem es in der Grimm'schen Märchenvorrede heißt:
 
            „Die weltliche Klugheit wird gedemüthigt und der Dummling, von allen verlacht und hintangesetzt, aber reinen Herzens, gewinnt allein das   
            Glück.
 
Im Kontext der „Kinder- und Hausmärchen“ ist also auch Hans im Glück ein Sympathieträger – eine Rolle, die er selbst bestätigt, als er nach dem willkommenen Verlust der ohnehin völlig wertlosen Wetzsteine am Ende seines Weges in die Welt ausruft:
 
            „Hans, als er (die Steine) mit seinen Augen in die Tiefe (des Brunnens) hatte versinken sehen, sprang vor Freude auf, kniete dann nieder
            und dankte Gott mit Tränen in den Augen, daß er ihm auch diese Gnade noch erwiesen und ihn auf eine so gute Art, und ohne daß er sich  
            einen Vorwurf zu machen brauchte, von den schweren Steinen befreit hätte, die ihm allein noch hinderlich gewesen wären 'So glücklich wie
            ich', rief er aus, 'gibt es keinen Menschen unter der Sonne.' Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun fort, bis er daheim bei
            seiner Mutter war.“
 
Der nach den Gesetzen des Kapitalismus restlos und endgültig Gescheiterte preist sich in Verkennung oder in genauerer Einsicht in seine finale Situation einschränkunglos als 'glücklichsten Menschen unter der Sonne'. Die totale Besitzlosigkeit, wie sie etwa Franz von Assisi im Mittelalter als Voraussetzung für ein glückliches, sorgenfreies Leben und als eine Bedingung für die Erlangung der Ewigen Seligkeit gepriesen und selbst vorgelebt hat, tritt hier an die Stelle eines mit Gaben und irdischen Glücksgütern gesegneten Happyend.
Hans glaubt in sich in diesem Sinn mit Recht einen Menschen zu sehen, der von Gott zum christlichen Ideal der Besitzlosigkeit geführt wurde, und damit verkörpert er zuletzt den Idealtypus des Armen im Mittelalter der Bettelorden, dem Verbindung mit Gott alles und irdischer Besitz gar nichts, ja nur beschwerliche Last bedeutet – ein Lebensideal, über das zu spotten töricht wäre.
In Geoffrey Chaucers Canterbury Tales vom Ende des 14. Jahrhunderts heißt es entsprechend bündig:
 
                        „Doch, wer nichts hat und nichts begehrt - obgleich
                         man ihn den ärmsten Schlucker nennt - ist reich!“
 
Wernickes Geschichte macht sich mit leiser Ironie über diese Selbsteinschätzung des Einfältigen lustig; viele Rezipienten des Grimm'schen Textes hatten und haben Verständnis und bewundernde Sympathie für die immer wieder bedenkenswerte franziskanische Welt- und Selbstdeutung des dummen, aber rundum liebenswürdigen Hans.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2019