Matera 2009 
            Im Jahr 2019, unter dem Stern Materas als 
            Kulturhauptstadt Europas so aktuell wie eh. 
                         
            Wenn man zum zehnten Mal seinen Urlaubsort besucht, erwartet man keine großen Überraschungen mehr. Man möchte Bekanntes, Vertrautes wiedersehen und kleine Veränderungen wohlwollend registrieren. Aber mein Urlaubsort Matera in Süditalien, 60 km von Bari entfernt, ist für große Überraschungen gut, für solche, die einen vorübergehend sprachlos machen. Also ich traf am 7. Mai 2009 abends in Matera  ein und machte mich am folgenden Morgen gleich auf, um pausenlos  Freunden und alten Bekannten zu begegnen - das ergab sich zwanglos.  "Kleine Veränderungen" - natürlich hier und dort, z.B. ein neues  Restaurant, ein soeben eröffnetes Hotel, das eine Grottenkirche in eine  Empfangshalle umgestaltet hat (I'hotelinpietra). Die Bauarbeiten am  herrlichen Musma-Museum (Museo della scultura contemporanea Matera) sind  beendet. Die Sammlungsbestände sind großartig und begründen den  internationalen Rang dieses Museums. 
            Eustachio  Rizzi, der die Sassi in miniatura gestaltet hat und ein Geschäft mit  Werken aus Tuff betreibt, zeigt mir stolz einen von ihm eingerichteten  Höhlenbereich, der das Leben in den Sassi vor hundert Jahren  veranschaulicht. Küche, Schlafraum, Stallung, Klo - alles zusammen und  im alten Stil. Die Rizzi-Söhne haben lebensgroße Figuren geschaffen und  in die Kleidung der Vorfahren gesteckt. Das ist nun wirklich etwas für  Touristen! 
            Etwas  später lerne ich den Bildhauer Pietro Gurrado kennen. Seine Skulptur  "La Nostra Grande Madre", farbig und "realizzato in pietra di Lecce",  soll einen öffentlichen Platz in Matera schmücken. Als es geschieht,  kreist ein Hubschrauber über den Sassi - sicherheitshalber! - denn ein  hochrangiger Politiker aus Rom ist angereist, um das Denkmal  einzuweihen. Mich interessiert stärker der Produktionsprozeß, den der  Meister fotografisch dokumentiert hat. 
            Es  gibt auch traurige Nachrichten. Der Maler Filazzola ist weggezogen. Ich  war gern in seinem Höhlenatelier und seinem stufenförmig angelegten  Garten, in dem sich entzückende Katzen räkelten. 
            Universitätsprofessor  Giuralongo ist tot. Plakate laden zu einer Gedenkveranstaltung im  Palazzo Lanfranchi ein. Wir hatten im Jahr 2007 bei unserem Freund Aldo  Montemurro, dem Inhaber des Sax Café, ein Buchprojekt besprochen.  Geschichten über Sassi-Bewohner, Illustrationen von Gioacchino (so heiße  ich in Matera). Nun bleibt mir nur neben der Erinnerung an ein  anregendes Gespräch die hastig hingekritzelte Karikatur, die den  hochgewachsenen Gelehrten in die Länge zieht... 
            Große Überraschungen? Nur Geduld, jetzt kommen sie! Unmittelbar in der Gasse hinter "unserem"
             
            
 Donato  Cascione, der Sammler und Museumsgründer, geleitet uns über Treppen  durch schmale Gänge von Höhle zu Höhle. Möbel, Karren, Instrumente,  Hirtenscheren, Prägestempel für das Brot, Töpfe, Tiegel, Kannen. Fast  unüberschaubar! 
            Donato  Cascione erzählt mit leiser Stimme von der bäuerlichen Kultur und den  alten Handwerken. Ja, Tontöpfe und Keramikgefäße wurden früher  fachmännisch repariert. Ja, in der Regel starb man in dem Bett, in dem  man geboren worden war. Und diese Überfülle - wie kann man sie  erfassen?! Signor Cascione bleibt gleichmütig. Der Staat wird alles  übernehmen - irgendwann! Ohne unseren Führer würden wir uns im  unterirdischen Labyrinth verlieren. Mehr als zwölf Höhlen haben wir  gezählt, hohe und weite Räume, zum Glück gut beleuchtet. 
            Irgendwann  öffnet sich eine Tür zu einem Gärtchen, und wir setzen uns ein wenig  erschöpft auf eine Steinbank. Ich suche nach Worten, um mein Erstaunen  auszudrücken. Signor Cascione lächelt nachsichtig. Er schenkt mir ein  Buch, in dem er "Stimmen" gesammelt hat, Aussagen von alten  Sassi-Bewohnern. Denn die Dinge sprechen zwar auch, aber über das  Schicksal der Menschen sagen sie nichts. Bei dieser Gelegenheit erfahre  ich, daß Donato - so darf ich ihn nennen - auch Schriftsteller ist. Ich  frage ihn, ob ich ihn zum Dank zeichnen darf. Er nickt und setzt sich.  Ich skizziere ihn und schenke ihm am nächsten Tag die Porträts. Er ist  zufrieden, nachdem er sie lange betrachtet hat. 
            Mein  Freund Aldo sieht mir das Erlebnis im Höhlenlabyrinth der bäuerlichen  Kultur und der alten Handwerke an. Wahrscheinlich habe ich runde  Eulenaugen gekriegt. "Wir machen wieder eine Ausstellung mit Deinen  Bildern," kündigt er an und schickt mich zu Signor Roberto Linzalone in  das Museo Ridola. 
            Das  Ridola-Museum, an einem schönen Platz in der Nähe des Palazzo  Lanfranchi gelegen, birgt herrliche Fundstücke aus Ausgrabungen, die der  Arzt und spätere Senator Dr. Ridola finanzierte. Ein archäologischer  Schatzbehalter, aber kaum geeignet für meine Matera-Zeichnungen und  italienischen Aquarelle, die Aldo betreut. 
            Signor  Linzalone ist freundlich, forscht mich aber auch aus. Seine Sprache ist  anspruchsvoll und fordert meine italienischen Sprachkenntnisse in hohem  Maße heraus. Später erfahre ich: Er ist ein poeta, ein Satiriker. Ich  zeige einige Bilder und erzähle, wie ich 1998 nach Matera gekommen bin  und warum ich immer wieder zurückkehre, um hier zu schauen und zu  zeichnen. Wir verabschieden uns ohne irgendeine Absprache. Man hat sich  kennengelernt. Das war´s. 
            Mitnichten!  Aldo erklärt mir einige Tage später, Signor Linzalone wolle eine  größere Zahl meiner Bilder im Keller seines Privathauses ausstellen. Im  Keller! Nun ja, es gibt gemütliche Keller, warum nicht? 
            An  einem Abend stehe ich mit Aldo vor einer Felsenwand inmitten der Sassi,  oberhalb unserer Wohnung und mit herrlichem Blick auf den hochragenden  mittelalterlichen Dom. Die Felsenwand ist geglättet, und es gibt eine  dunkle Holztür. Roberto Linzalone erscheint, schließt auf und läßt uns  eintreten. Zunächst Dunkelheit. Dann werden Lichtschalter bedient.  Boden- und Wandleuchten flammen auf. Ein riesiger Raum tut sich auf,  eine Art Kirchenschiff. Jedenfalls denkt man sofort an einen Sakralraum,  ein fast feierliches Gewölbe mit Seitennischen und -höhlen, das an  seinem Ende geheimnisvoll schimmert und dort wie eine Andachtsstätte auf  mich wirkt. Die gute Luft ist einer Klima-Anlage zu danken. Die  niedrigen eleganten Sessel und Tische erstrahlen in Weiß. Hier könnte  man sich ein Treffen von Gralsrittern vorstellen, eine Konferenz von  Akademie-Mitgliedern, die Versammlung eines Mönchsordens. Natürlich gibt  es große Nebenräume, für die Garderobe, für Toiletten etc. 
            Auf  einem mächtigen Tisch, der für eine große Gesellschaft gearbeitet sein  muß, soll das Büffet ausgebreitet werden. Darüber sprechen Aldo und  Roberto mit südlicher Leidenschaft. Ich gehe - immer noch staunend -  durch die Gewölbe und prüfe die Lichtverhältnisse für meine Bilder. Die  gerahmten Aquarelle können aufgestellt, die ungerahmten Zeichnungen  ausgelegt werden, es gibt genügend Mauervorsprünge, Sitzbänke und  Tische. 
            Die  Vernissage wird ein Erfolg, viele interessierte Gäste, gute Gespräche  etc. Aber davon soll nicht die Rede sein. Mir geht es um die geheime  Welt dieser Stadt im "Untergrund“. Unvergleichlich! Wenn die Bauten von  Matera verschwänden, "das Unterirdische" würde bleiben, das Labyrinth  von kirchenschiffartigen Grotten, Wohnhöhlen, Treppen, Gängen, in sich  verschachtelt, über- und untereinander. 
            Am  nächsten Abend gehe ich die Via Fiorentini entlang bis zur Steinmauer,  die vor dem Absturz in die Schlucht bewahrt. In der Tiefe hört man den  kleinen Fluß Gravina, der sich dahinschlängelt und die Flanken der Stadt  umspült. Diese belebten Abgründe - man muß sie kennen! Sonst bleibt  einem Matera im Kern verschlossen, sonst bleibt die Bekanntschaft  oberflächlich. 
            Abgründe  - das Abgründige in einem Menschen. Geheime Offenbarung des wahren  Wesens. Wunderbares und Schreckliches kann zu Tage kommen. Ich spreche  mit meinen italienischen Freunden darüber. Sie verstehen mich, aber ein  aussagekräftiges Wort, das "Abgründiges" ausdrücken kann, existiert in  der italienischen Sprache nicht. 
            Lassen  wir das deutsche Grübeln! Ich hatte früher Führungen mitgemacht und  Höhlenkirchen mit schönen Fresken besichtigt. In diesem Jahr hat sich  mir die unterirdische Welt von Matera offenbart. Das war die große  Überraschung! Ich bin der Stadt und ihrem geheimen Wesen im Labyrinth  riesiger Höhlen nähergekommen. Jetzt weiß ich mehr, gewiß noch nicht  alles. 
            © 2009 Joachim Klinger - Erstveröffentlichung in den Musenblättern Redaktion: Frank Becker 
                         
            Lesen  Sie auch Joachim Klingers Artikel über das Weltkulturerbe der Welt der  Höhlen und verwinkelten Taleinschnitte der Sassi in der süditalienischen  Region Basilicata:              www.musenblaetter.de/artikel              
                        
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