Im Brunnen der Vergangenheit

Zurück bis zur Renaissance

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Im Brunnen der Vergangenheit

Zurück bis zur Renaissance

Von Ernst Peter Fischer
 
Wer verstehen will, was an Picasso und Einstein neu ist, muß das Alte kennen, von dem sie ausgegangen sind und das ihnen allein bekannt war. Die Physik, die Einstein studierte und zu lernen hatte, war die Physik, wie sie etwa von Michael Faraday und James Clerk Maxwell entworfen worden war. Und die Bilder, an denen sich Picasso orientierte, stammten nicht zuletzt von den Impressionisten und ihren Nachfolgern, unter denen Cézanne herausragte. Um es kurz und bündig zu sagen: Der Weg zu Picasso führt über Cézanne, und Cézanne hat zeitlich gesehen nach den Impressionisten gemalt, von denen er nicht nur begeistert war. Ihm gefielen die Farben, aber er vermißte die Struktur auf den Bildern. Cézanne zeigte sich zwar erstaunt darüber, über welch ein gutes Auge etwa Claude Monet verfügte. Es bleibt aber ein Auge, und das kann nicht allein Licht zum Sehen und Erkennen machen. Für die Ordnung im Bild wird der ganze Kopf benötigt, ohne daß etwa die Physiologie dieser Tage oder die damals neue Psychologie hätte sagen können, wie dies im Detail passiert.
     Cézanne machte sich allein an die analytische Arbeit und verschob die Erkundung des Sehvorgangs vom Auge ins Gehirn. Und mit diesen Stichworten fällt es leicht, die zeitgenössischen Naturwissenschaften ins Spiel zu bringen, denn als die bildenden Künstler ihre Aufmerksamkeit vom ersten Sinneseindruck zu seiner Verarbeitung im Nervensystem lenkten, bewegten sich viele Physiologen wie der in Berlin tätige Hermann von Helmholtz in eine vergleichbare Richtung.
     Um jedes Mißverständnis zu vermeiden: Hier wird nicht die Ansicht vertreten, daß sich etwa die Entwicklung der Kunst - zum Beispiel hin zum Impressionismus durch ein Fortschreiten in den Naturwissenschaften erklären läßt. Viel sinnvoller und ergiebiger erweist sich die Annahme, daß sich die beiden geistigen Abenteuer der Menschen ihren eigenen Tendenzen, ihren speziellen Verschiebungen und besonderen Fragestellungen überließen was sicher sowohl bei Einstein und Picasso als auch bei Heisenberg und Kandinsky der Fall ist. Daraus folgt allerdings nicht, daß beide Bemühungen völlig getrennt und ohne jede Beziehung zueinander erfolgen, und es wirkt eher albern, wenn man die Augen vor der Tatsache verschließt, daß sich das physikalische Verständnis von Farben in dem historischen Augenblick erweitert, in dem sich ebenfalls in der Malerei ein anderer Umgang mit diesen „Taten des Lichts“ (Goethe) zeigt. Und daß sich Cézanne in denselben Jahrzehnten Gedanken über die Frage macht, was und wie er sehen kann, in denen sich auch die Physiologen darüber streiten, wo und wie das Bild der Welt entsteht, das wir vor Augen haben, braucht ja ebenfalls nicht absichtlich und gezielt übersehen zu werden.
     Also - wir verstehen nur, was neu ist an Picasso und Einstein, wenn wir wissen, mit welchem Stand der Dinge sie vertraut gemacht wurden bzw. sich vertraut machen konnten, und das waren vor allem die Hervorbringungen des 19. Jahrhunderts. Natürlich haben auch die Künstler und Wissenschaftler dieser Epoche das Rad nicht noch einmal erfunden, sondern ihre Vorläufer und Vorbilder gehabt, wobei zum Beispiel Einstein selbst sich unmittelbar auf die Ansichten und Einsichten von Isaac Newton bezog, der mit seinen Schriften im 17. und 18. Jahrhundert als erster die Kühnheit besaß, aus physikalischen Überlegungen zu irdischen Phänomenen - vom Baum fallende Äpfel zum Beispiel - Schlüsse über die Welt als Ganzes zu ziehen. Und Picasso hat sich - wie bereits angedeutet - schon sehr früh an Raffaels Zeichenkunst aus der Zeit der Renaissance geschult und später viel von den Anordnungen und Haltungen der Figuren auf den Gemälden von El Greco aus dem frühen 17. Jahrhundert gelernt.
     Bevor befürchtet wird, daß diese rückwärtsorientierte Wanderung immer noch ein Stück fortgesetzt wird und wir uns so weit in die Geschichte hineinziehen lassen, bis wir die beiden Protagonisten aus den Augen verlieren - bekanntlich ist er tief, der Brunnen der Vergangenheit -, kann Entwarnung gegeben werden. Wir sind nämlich an dem Punkt angekommen, von dem aus die europäische Kultur sich erst aufmacht und dann verzweigt, um Jahrhunderte später bei Picasso und Einstein wieder zusammenzukommen. Gemeint ist die Epoche, die wir als Renaissance bezeichnen und in der zum Beispiel Leonardo da Vinci die bewegte Welt in bewegenden Zeichnungen festhält, und bei ihm versucht man vergeblich, eine Unterscheidung zwischen dem Künstler und dem Forscher zu finden. Diese Trennung bleibt auch bei Picasso und Einstein sinnlos, nur daß dies weniger bekannt ist und kaum auffällt, da wir uns schon länger an eine Zweiteilung unserer Kultur in die Bereiche gewöhnt haben, die wir in Natur- und Geisteswissenschaft erfassen und als wissenschaftliche und künstlerische Intelligenz unterscheiden. Dies geschieht gewöhnlich auf Kosten der Naturwissenschaft, deren Vertreter als dumpfe und gedankenlose Sammler von experimentell ermittelten Tatsachen dargestellt und den phantasiebegabten Produzenten künstlerischer Formen aus realem Rohstoff negativ gegenübergestellt werden. Man hört nicht oder will nicht hören, daß Einstein wiederholt betont und ausführlich erläutert hat, daß wissenschaftliche Theorien freie Hervorbringungen des menschlichen Geistes und somit in dieser Hinsicht von Kunstwerken nicht sehr verschieden sind. Und man überhört gern, daß Picasso nicht zögert, den Ausdruck „Forschung“ für die Anfertigung von Skizzen und Entwürfen zu verwenden, die der Arbeit an einem geplanten Bild zum Teil Jahre vorausgehen. „Gemälde sind nichts anderes als Forschung und Experiment“, wie er einmal gesagt hat, „Ich male nie ein Bild als Kunstwerk. Alle sind sie Forschungen. Ich forsche unaufhörlich, und in all diesem Weitersuchen liegt eine logische Entfaltung. Deshalb numeriere und datiere ich die Gemälde.“
 
 
© Ernst Peter Fischer
Aus: „Einstein trifft Picasso und geht mit ihm ins Kino (Auszug)
2005 Piper Verlag