Im Leben etwas riskieren

„Juliet, Naked“ von Jesse Peretz

von Renate Wagner

Juliet, Naked
(USA - 2018)

Regie: Jesse Peretz
Mit: Rose Byrne, Ethan Hawke, Chris O’Dowd u.a.
 
Es gibt Menschen, die zur Besessenheit neigen – egal, wovon, jedenfalls so stark, daß gar keine Zeit fürs wirkliche Leben bleibt. So wie der Lehrer Duncan aus einer englischen Küstenstadt besessen ist von Tucker Crowe, obwohl dieser als Popsänger seit Jahrzehnten nichts mehr von sich hören ließ. Und nun brachte er eine neue CD heraus, „Juliet, Naked“. Da kann man ja in seinem Blog (am Computer) nur vollmundig interpretatorisch ausflippen und die wildesten Spekulationen daran knüpfen…
Man versteht, daß all das Duncans Freundin Annie Platt (die ganz gern ein normales Leben mit Kindern hätte) entsetzlich auf die Nerven geht. Es ist überhaupt alles so wunderbar echt und heutig hier, kleingeistig und glaubwürdig. Kein Wunder, hat doch Nick Hornby den dazu gehörigen Roman geschrieben. Und der verfilmt sich gut, wie man aus anderen Beispielen weiß (von „About a Boy“ über „High Fidelity“ bis zu „An Education“). Auch wenn wir hierzulande von der englischen Kleinstadt weit weg sind – die Leute ticken heutig.
 
Den Tucker Crowe, um den es geht, lernt man auch kennen. Schäbig, abgehalftert, in Amerika auf der Farm einer Exfreundin hausend, ein „Studio“ in einer Garage. Einen kleinen Sohn hat er auch. Später merkt man, daß seine Familie (überall hinterlassene Kinder, um die er sich nie gekümmert hat) riesig ist. Aber das passiert erst, als er nach England kommt.
Weil das Ganze hier und heute spielt, versteht man, daß die ärgerliche Annie, die ihrem Freund dabei zusieht, wie er sein Leben verschwendet, quasi aus Trotz beginnt, per Internet mit Tucker zu chatten, nachdem sie etwas Unfreundliches über die neue CD geschrieben hat. Und man weiß ja, wie das so geht – man versteht sich irrsinnig gut, solange das Gegenüber sich nicht in Fleisch und Blut materialisiert. Aber irgendwie ist das ja unvermeidlich, zumal wenn Annie von Duncan endgültig genug hat…
Man möchte nicht im Detail erzählen, was sich nun alles abspielt, wenn Tucker – der einst so geschniegelte Ethan Hawke nun lustvoll als wirklich ruinöse Erscheinung – nach London kommt (eine seiner Töchter ist schwanger) und mit Annie (ganz hinreißend normal: Rose Byrne) zusammen trifft. Das ist jetzt gar nicht besonders dramatisch und unwahrscheinlich, denn Hornby schreibt bekanntlich (bloß leicht ironisch) an der Wirklichkeit entlang und ist ein Meister, wenn es darum geht, die Fragwürdigkeit von Beziehungen aufzublättern. Duncan jedenfalls (überzeugend aufgeplustert: Chris O’Dowd) bleibt auf der Strecke. Und trägt das begreiflicherweise sehr schlecht.
 
Und Regisseur Jesse Peretz hat ein paar im Roman angeschnittene Themen umgesetzt. Am Beispiel Duncan: Was sind das für Menschen, die sich panisch in das Leben anderer hineinbohren? Für die jeder Rülpser des Idols eine Offenbarung ist? Die lieber in ein fremdes Leben fliehen als ein eigenes zu leben? Und die sich im Hineininterpretieren von Bedeutsamkeiten, die es gar nicht gibt, schlichtweg lächerlich machen…?
Am Beispiel Tucker: Wie lebt es sich als „Künstler“, der alle Beziehungen am Straßenrand liegen läßt? (Eine Tochter, bei der er sich erstmals meldet, als sie erwachsen ist, läßt ihn völlig und berechtigt total abfahren, hat nicht das geringste Interesse an ihm, berühmt oder nicht.) Und wie ist das, wenn man einmal einfach nicht mehr will, und man schleppt ja doch den Ruhm und die Fans und deren Erwartungen hinter sich her…?
Am Beispiel Annie: Wenn Hornby an ihrem Beispiel zeigt, daß man im Leben etwas riskieren soll, dann ist er bei der „normalsten“ Figur am konventionellsten. Denn diese „Aussage“ würde bald einer tätigen. Auch Autoren, die weniger klug und witzig sind als Hornby…
 
Trailer     
 
Renate Wagner