Seh-Reise (49)

Neunundvierzigste Ausfahrt: Georg Friedrich Kersting

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (49)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
49. Ausfahrt: Georg Friedrich Kersting
 

Der Schatten an der Wand
 
Einer, der im Kopf auf Reisen geht, fiel mir spontan ein, nachdem die Kunstpostkarte „Lesender bei Lampenlicht“ als zehnte vom Stapel gefallen war, ein kleines Ölbild von Georg Friedrich Kersting. Ein Thema, daß es mir warm wird ums Herz. Einen Menschen eine Woche lang zu beobachten bei der subtilsten Art der Fortbewegung: dem Lesen …
Doch von Wärme nicht die Spur beim morgendlichen Aufbrühen meines Tees. Von Tag zu Tag verkühlte ich mich mehr an diesem grünlichen Aquarium, ähnlich dem Unterwasserbecken eines Zoos. Statt exotischer Fische darin ein Schatten an der Wand, eine diffus gestreckte Gestalt, und ich kam nie mit mir ins Reine: Entsteht die Figur lediglich aus den Schatten, die Lampe und Lesender werfen, oder ist es nicht doch eine frei erfundene Figuration dessen, was da gerade im Kopf des Lesenden geschieht – eine Hieroglyphe dieses geheimnisvollen Prozesses Lesen, das Menetekel einer „Schrift an der Wand“?
Auch daß das Regal leer von Büchern ist, irritierte mich. Ich fand, hinschauend,  keinen Grund,  warum dieses mächtige, dunkle Möbel, das dem Lesenden wie ein Alptraum im Nacken sitzt, offenbar seine Funktion verweigert. Nimmt ein Drittel des Bildes weg, drückt den an sich schon bescheidenen Raum um den Lesenden noch einmal zusammen, daß der sich, eingezwängt zwischen Sessel, Buch und Lampe, kaum mehr rühren kann. Merkwürdiges Lesen! Klaustrophobische Enge eher als die sich öffnende Weite eines Ideen-Himmels.
 
Das Bild als eine gemütliche abendliche Lesestunde mit zu genießen, gelang mir nie. Dabei war doch alles dazu da: Das bürgerlich elegant
eingerichtete Lesezimmer, von biedermeierlicher Intimität. Im Mittelpunkt ein Mann um seine Dreißig, unabgelenkt auf das Buch vor ihm konzentriert,  eine braune Wolldecke über die Beine gelegt. Nichts zu entdecken, was seine Muße stören könnte. Die eine Hand stützt den Kopf ab, indem sie ins wohlfrisierte lange Haar greift, die andere ruht auf dem Buch. Die junge Dame im Lederrähmchen links von der modischen Empire-Lampe ragt als wohltuende Erinnerung an ein Draußen hinein in seine Lesewelt.
Ebenso bequem wollte ich es mir als Betrachter auch machen in der biedermeierlichen Idyllik dieses zeit- und weltverlorenen Lesens, doch es gelang mir nur für Momente. Immer wieder wurde ich hinaus geworfen. Der Maler sendet zu viel verstörende Unstimmigkeiten aus, die mich vor Fragen stellten. Nicht nur der leere Bücherschrank. Wozu sind die drei Schachteln gut? Was  gehört in den roten Kasten links, der so demonstrativ geöffnet ist? Und dann, immer wieder: Wie habe ich diese dominante Schattenfigur in lichtem Wassergrün zu deuten?
Da geht es doch nicht mit rechten Dingen zu!
Erst als ich heute Morgen den „Lesenden“ aus seinem Rahmen befreie, um ihn, darüber schreibend, mit auf die Seh-Reise zu nehmen, gehen mir die Augen nicht nur auf, sie gehen mir über.
Georg Friedrich Kersting hat, sehe ich, sein Bild 1814 gemalt, genau in dem Jahr, in dem Adelbert von Chamisso seinen „Peter Schlemihl“ veröffentlicht. Seit Tagen lese ich, in einem anderen Zusammenhang, diese wahrlich „wundersame Geschichte“ wieder, in demselben  Reclam-Heftchen, in dem ich sie als Untertertianer vor einem halben Jahrhundert kennengelernt hatte. Muß ich sagen, worum es da geht? Um einen jungen Mann, im Alter von Kerstings Lesendem, der seinen Schatten verkauft an einen Mann im „grauen Rock“ (natürlich der Teufel) gegen ein unerschöpfliches „Glückssäckel“ voller Dukaten. Danach ist er zwar reich wie Hans im Glück, doch zeitlebens muß er ohne seinen Schatten durchs Leben gehen und wird deshalb von aller Welt gemieden. Zuletzt verliert er deswegen auch noch seine Herzallerliebste (die im Lederrähmchen?) und bleibt verlassen und allein zurück.

1814: In einem Jahr thematisieren zwei annähernd gleichaltrige deutsche Künstler das Thema schattenhafter Existenz, der Schriftsteller Chamisso in Berlin und der Maler Kersting in Dresden. Sie können voneinander nichts gewußt haben, und doch treibt sie, in aller Verschiedenheit, das gleiche um.
Welche Unsicherheiten, welche Ängste haben da auf den Seelen zweier  empfindlich-empfindsamer Menschen in deutschen Landen gelegen, die wir Heutigen aus dem Abstand von genau zweihundert Jahren als die Epoche des  Biedermeiers einordnen - die „gute alte Zeit“ behaglichen Bürgertums? Für die, die die Antennen dafür hatten, muß sie voller Dämonie gewesen sein, von unergründbarer Rätselhaftigkeit. Die Schattenexistenz ist dafür eine sehr brauchbare Chiffre. 1814: Da war Kersting gerade aus den „Befreiungskriegen“ zurückgekehrt, tief enttäuscht, in die er sich als Freiwilliger in schäumender Begeisterung hineingeworfen hatte, bei Lützows Jägern, wie die besten seiner Generation, Maler, Dichter, Akademiker.
Schade. Hätte ich doch unter dieser Woche schon etwas von der schriftstellerisch-malerischen Parallelaktion Kersting-Chamisso gewußt! Es wäre ein reicheres Schauen geworden.
 
Georg Friedrich Kersting, Lesender bei Lampenlicht,  Öl auf Leinwand, 47,5 x 37 cm, 1814
Museum Stiftung Oskar Reinhart, Winterthur
 

Redaktion: Frank Becker