Seh-Reise (47)

Siebenundvierzigste Ausfahrt: Charles Mellin

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (47)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
47. Ausfahrt: Charles Mellin
 

Wucht und Klage
 
Europa um 1630 – der Dreißigjährige Krieg steht in seinem Zenit, christliche Glaubenskämpfe zerreißen den Kontinent. Die Länder, allen voran in Mitteleuropa, werden von riesigen Armeen ausgesaugt, Städte geplündert, abgebrannt. Die Felder liegen verwüstet brach. Den sengenden und brennenden Söldnerhaufen folgen als ihre ständigen Begleiter alle möglichen Seuchen, am schlimmsten die Pest. Große Städte verlieren bis zur Hälfte der Bevölkerung an den Schwarzen Tod, ganze Regionen verschwinden mit ihren Dörfern von der Landkarte.
 
Andreas Gryphius, ein Dichter dieser Jahre, klagt:
 
Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden.
Was itzund prächtig blüht, soll bald zertreten werden.
Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein;
Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.
 
Europa um 1630 – das Lebensgefühl des Barock, seine Formensprache erfassen den Kontinent. Die Künste schwelgen in nie gesehener Pracht,
in Verschwendungslust und Fülle. Die Welt ist Jammertal und Abglanz des Himmels, Tod und Ewigkeit in einem Atemzug.
Aus diesem Jahr 1630 stammt das „Bildnis eines Mannes“, das Charles Mellin zugeschrieben wird. Mellin, in Lothringen gebürtig, verbringt seine Laufbahn als Maler in Italien, in Rom und Neapel.
Überlebensgroß ist sein Porträt eines Patriziers, zwei Meter auf einszwanzig. Der Mann braucht Platz. Hier zeigt sich ein Mensch in seinem ganz und gar ungebrochenen Da-Sein, mit einer Wucht, der sich wohl kein Betrachter entziehen kann. Ecce homo – das bin ich! Der massige Rumpf, überworfen von einem knietiefen schwarzen Gewand, wölbt sich der Rundsäule entgegen, als wolle der Mann es auch mit dem „Marmorstein“ aufnehmen. Auf strammen Beinen behauptet er sich zwischen Wand und Säule, rafft gerade den Rock ein wenig. Der Stab zur Linken verkümmert als ein lächerliches Stöckchen, Attribut seines gehobenen Standes – ein Rohr im Wind.
Alles, was der Mann tut, ist da zu stehen. Sein statt Handeln. Er will nichts, er braucht nichts, ist sich selbst genug. Gerade diese Tatenlosigkeit sichert seiner Erscheinung den dominierenden Eindruck.
Er schaut herab auf uns, der Mann, auf uns und alle Welt, die Unterlippe aus dem fleischigen Gesicht vorgeschoben. Verachtung oder die Anspannung eines Willens drücken sich darin so wenig aus wie ein Lächeln der Annäherung, das für sich einnehmen will. Reich ist der Mann, ja, gewiß. Diese Wohlbeleibtheit ist natürlich schon ein Statussymbol. Sie stammt aus vollen Fleischtöpfen, nicht von der Tafel des Mangels. Doch woher er seine Mittel nimmt? Wer wollte hier nach Verdienst und Titeln fragen? Auch die Standarte zu seinen Füßen, mit dem Emblem eines Baumblattes, gibt keinen Hinweis auf das, wofür der Porträtierte – außer für sich selbst – sonst noch stehen könnte. Ein Feldherr, Mann der Kirche, ein Händler? Das alles mag er sein oder auch nicht – es ist jedenfalls weniger als er selbst.
Für dieses Mannsbild gilt weder ein Gestern noch ein Morgen. Allein der jetzt gelebte Augenblick erscheint in ihm.
Allenfalls der lehmfarbene Hintergrund von Nische und Säule könnte, barock empfunden, als ein versteckter Hinweis auf die Endlichkeit dieser reuelosen körperlichen Prachtentfaltung gedeutet werden: Aus Lehm gemacht, werden wir nächstens wieder zu Lehm zerfallen.
 
Immer sind es die Dichter, die klagen.
 
Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein;
Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.
Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.
 
Tief gedacht, Meister Gryphius! Doch es hat, mit einem immer noch staunenden Blick auf den genußfrohen Dicken, auch etwas Spielverderberisches. Oder nicht?
 
Charles Mellin, Bildnis eines Mannes, um 1630. Öl auf Leinwand, 203 x 121 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie
 
 
Redaktion: Frank Becker