Theater der Welt, Gesellschaftskritik im Wimmelbild

Jürgen Müller, Thomas Schneider – „Bruegel – Das vollständige Werk“

von Johannes Vesper

Theater der Welt,
Gesellschaftskritik im Wimmelbild
 
Zum 450. Todesjahr Pieter Bruegels:
Das vollständige Werk.
 
Von Johannes Vesper
 
Jan van Eyck (1390-1441), Hieronymus Bosch (1450-1516), Matthias Grünewald (1475-1531?) und Albrecht Dürer (1471-1528) sind vielleicht die wichtigsten Künstler der frühen Neuzeit im nördlichen Europa, die „Erfinder des Gemäldes“. Etwas später kam Pieter Bruegel (1525? -1569) dazu, der im Gegensatz zu den Italienern - Michelangelo (1475-1564), Leonardo da Vinci (1452-1519), Sandro Botticelli 1445-1510) und Raffael (1483-1520) seien genannt - realistisch, drastisch, auch Häßlichkeiten mit Humor, Hohn und Spott malte. Der Schönheit und Eleganz italienischer Malerei dieser Zeit setzte er seine eigene Ästhetik entgegen. Akte, männliche wie weibliche, sucht man in seinem Œuvre vergebens, Porträts und Stilleben übrigens auch. Er malte den Künstler erstmalig zusammen mit dem Käufer der Kunstwerke: den würdigen Maler mit Pinsel, prüfendem Blick, Kappe und wirrem Haar und den hinter ihm stehenden interessierten Kunstkonsumenten, der schon an seiner Geldbörse nestelt. Erfindet Bruegel damit sozusagen bildhaft den Kunstmarkt? Zuvor wurden Bilder gestiftet.
 
Was vom Leben dieses Ausnahmekünstlers bekannt ist, weiß man im Wesentlichen aus Karel van Manders „Schilder-Boeck“ von 1604. Das frühe kunstgeschichtliche Werk mit Biographien antiker, italienischer und flämischer Maler im Gefolge von Giorgio Vasaris (1511-1574) Künstlerbiographien (um 1550) erschien ca. 70 Jahre vor dem Erscheinen der deutschen „Academie der Edlen Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste“ Joachim von Sandrarts.
Wann und wo Pieter Bruegel genau geboren wurde, ist nicht bekannt. Seine Zeichnungen entstanden ab 1552. Das früheste Gemälde 1557. Seiner Reise von 1552-1554 über die Alpen nach Italien verdankte er die Kenntnis großartiger Alpen- und gebirgiger Landschaftspanoramen, wovon er zahlreiche Studien anfertigte. Ab 1555 lebte er wohl wieder in Antwerpen, heiratete dann 1563 allerdings in Brüssel. 1564 und 1568 wurden seine beiden Söhne (Pieter d.J. und Jan) geboren, die später beide erfolgreiche Maler werden. 1569 starb er und wurde katholisch beerdigt.
 
Obwohl es nur wenige „Bauernbilder“ gibt, war Bruegel früher vor allem als Bauernmaler bekannt und berühmt. Dabei stellte er die Weite und Erhabenheit der Welt in großen Landschaften viel öfter dar. Sein Spott über Alchemie, Hexenglauben, über Klerus und Justitia, über Tugenden und Laster lassen ihn eher als Humanist erscheinen, wovon auch das Porträt von Jan Wierix (datiert auf 1572) zeugt. Malerutensilien wie Pinsel und Palette sucht man hier vergebens. Wie er sich selbst gesehen hat? Darüber geben die versteckten Selbstbildnisse in den Gemälden „Aufstieg auf den Kalvarienberg“ und in „Johannespredigt“ Auskunft.
Bei der geringen Zahl seiner Werke (39 Gemäldetafeln, 65 Zeichnungen, 89 Kupferstiche in ca. 17 Jahren!) geht die Forschung davon aus, daß er als Auftragskünstler gearbeitet hat. Etliche Auftraggeber sind auch namentlich bekannt. Hat er entsprechend den Wünschen der noblen und elitären Auftraggeber gemalt oder ihnen seine Interpretation der Welt zugemutet? Kündigte sich hier schon die Aufklärung an? Jedenfalls interessiert ihn nach erfolgter Reformation in seinen Gemälden der Umgang der Konfessionen.
Im „Kampf zwischen Fasching und Fasten“ (1559) wird allumfassender Streit manifest: Mann gegen Frau, dick gegen dünn, Fleisch gegen Fisch, Lärm gegen Ruhe, Klerus gegen sündige Welt, „katholisches Übel gegen protestantisches Fieber“ mit Luther als Prinz Karneval? In der Bildmitte finden sich Personen mit orthopädischen Hilfsmitteln – Gehstützen- bei z.B. Beinamputation. Klar, gehörte man damals zur falschen Seite, zur falschen Konfession, mußte man mit Folter, Verbrennung, Tod und Verstümmelung rechnen. Die Konflikte und Grausamkeiten des 16. Jahrhunderts werden hier deutlich.


Pieter Bruegel, Der Kampf zwischen Karneval und Fasten (1559)

Seine Wimmelbilder haben diesen großen Maler des 16. Jahrhunderts einem weiten Publikum bekannt gemacht. Man kann sie als Vorläufer moderner Wimmelbilder in heutigen Kinderbüchern ansehen, obwohl die Bruegelschen Bilder alles andere als banale Alltagsszenen darstellen.
 
Aus dem Jahr 1559 stammt die Tafel „Die niederländischen Sprichwörter“. Einhundertneunzehn Sprichwörter sind dargestellt: „Meist wird dies Blauer Mantel genannt, doch als Torheiten der Welt wärs besser bekannt“, findet sich zentral in der Bildmitte, gleich nebenan werden „ Rosen vor die Schweine“ (hierzulande Perlen vor die Säue) geworfen. Es handelt sich um eine einzigartige Darstellung menschlicher Laster, menschlicher Ethik und Moral. Auffällig ist die Aktivität der zahllosen Personen auf dem Bild, deren Sinn sich nicht ohne weiteres erschließt. Außerordentlich phantasievoll und mit großer Menschenkenntnis werden die Laster der Zeitgenossen dargestellt. Der mit der Welt spielende Schönling erinnert thematisch an Charly Chaplin, der allerdings die Welt auf seinem Hintern tanzen läßt. Christus, ebenfalls in blauem Mantel, hält die Weltkugel auf seinem Schoß, als ihm ein flächserner Bart umgebunden wird. Welchen Dämon zähmt die Frau unten links in der Ecke, wenn sie den armen, ängstlichen Teufel aufs Kissen bindet? Zwei scheißen durch ein Loch, ein anderer scheißt auf die Welt; Manche sind bis an die Zähne bewaffnet oder hängen ihr Mäntelchen in den Wind. Auch daß man mit dem Kopf nicht durch die Wand kommt, leuchtet sofort ein.
Und auf der Tafel „Kinderspiele“ malte Bruegel 168 spielende Jungen und 78 Mädchen. Das Bild stammt aus dem Jahre 1559. In der Ferne schließt eine prächtige Kathedrale die Straße in der Zentralperspektive ab. Hübsch sind diese Kinder nicht. Überhaupt nicht. Reifenschlagen, Kopfstand, Stelzenlaufen, Schaukeln, Bockspringen, Blinde Kuh, Klettern auf Bäume: le länger man sich in dieses Bild vertieft, desto mehr Spiele findet man. Was soll das? Ist die Hochzeit in der Mitte des Bildes auch nur Spiel? Einzelne Gruppen auf dem Bild lassen biblische Szenen assoziieren: Die Gruppe am rechten Bildrand rechts, die dem Jungen in ihrer Mitte an den Haaren zieht, entspricht sie den Soldaten, die Jesus die Dornenkrone aufsetzen? Handelt es sich beim Wegtragen eines Kindes in der Gruppe rechts unten im Bild der Grablegung? Darüber können Kunsthistoriker prächtig spekulieren. Aber eine naive Idylle wurde hier jedenfalls nicht gemalt.
 
Sarkasmus und Satire mit Bezügen auf Hieronymus Bosch nehmen bei Bruegel in späteren Werken noch zu. Wahrscheinlich kannte Pieter Bruegel das „Narrenschiff“ von Sebastian Brant, jene berühmte Satire von 1495, in der bereits alle menschlichen Laster literarisch abgehandelt wurden. Töten und Foltern im Namen von Religion und Justitia ohne Schonung von Königen, Pilgern und von Liebespaaren, ohne Rücksicht auf Geld und Macht, Liebe und Kultur erscheint als Normalität. Die Fülle von mordenden Skeletten und grinsenden Totenköpfen illustrieren die Gräßlichkeit menschlicher Existenz, wie sie sich im 30jährigen Krieg, später bei der Französischen Revolution, aber vor allem beim deutschen Holocaust im 20. Jahrhundert tatsächlich manifestiert („Der Triumph des Todes“).


Pieter Bruegel, Die Elster auf dem Galgen (1568)

In Bruegels deftigen, volkstümlichen Darstellungen (z. B „Bauernhochzeit“) trübt sich die Stimmung subtiler ein. Saufen und Fressen, die Völlerei gehören zu den Todsünden, die zügellos nicht gescheut wurden. „Die Elster auf dem Galgen“ aus dem Jahre 1568 beobachtet die tanzende Gesellschaft auf dem Schindanger unter ihr. In der linken unter Ecke verrichtet jemand, wie menschlich, hockend seine Notdurft, während ein zweiter das Unterholz zwecks Pinkeln aufzusuchen scheint. In der Ferne breitet sich eine Gebirgslandschaft aus mit Burg, einem mäandernden Fluß und einem Dorf in der Bildmitte links. Auf den Blättern der Bäume im Vordergrund glitzert das Sonnenlicht. Wenn die Elster als Sinnbild der Geschwätzigkeit politisch gesehen wurde, könnte sie den Betrachter in Zeiten der Inquisition auf die Gefahr durch Denunziation hinweisen, durch die Idylle bedroht wird. Immerhin sitzt sie auf dem Galgen, der allerdings in einer eigenartigen Perspektive ungeheuer unsicher steht, oder wegläuft? Mit dem Bilderzyklus „Jahreszeiten“ werden auf fünf großformatigen Tafeln Menschen mit für die dargestellte Jahreszeit typischen Tätigkeiten in großartigen Landschaften dargestellt. Wie detailverliebt der Maler auch im fernen Hintergrund des Bildes Szenen malt, kann auf den Ausschnittvergrößerungen im Bildband sehr gut nachvollzogen werden, wahrscheinlich besser als bei Betrachtung der Originale im Museum.
 
„Die Tolle Grete“ scheint das sie umgebende alptraumhafte Chaos zu beherrschen. Leicht hat sie es nicht, wenn zahlreiche bedrohliche Fabelwesen andere piesacken oder in Gänze verschlucken und im Hintergrund ein bedrohliches Feuer lodert. Mit kleineren Teufeln nimmt diese Grete es unerschrocken auf. Selbst das große Ungeheuer am linken Rand mit weitgeöffnetem Maul, in dem viele verschwinden, schaut skeptisch auf diese tolle Frau. Parallelen zu Hieronymus Bosch sind unabweisbar. Ob sie verheiratet ist? Über Bruegels Ehefrau ist nichts bekannt. Karikiert ein misogyner Pieter Bruegel hier etwa seine streitsüchtige bessere Hälfte? Ist das Gemälde von 1563 feministischer Interpretation zugänglich? Reine Spekulation, und lustig ist das Gemälde jedenfalls nicht. Auch nicht die bedrohlichen „Imker“ von 1568. Sie erscheinen rätselhaft und unheimlich in ihren Kutten und vorne mit Geflecht verschlossenen Kapuzen wie Arbeiter eines nuklearen Zwischen- oder Endlagers. Jedenfalls sind Bienen nicht zu entdecken. Rechts ist einer in den Baum geklettert, als hielte er Ausschau, damit die Imker nicht bei einer Untat erwischt würden. Auf der Tafel „Der „Blindensturz“ stolpern von links oben nach rechts unten sechs Blinde mit ihren Blindenstöcken und leeren Augenhöhlen hintereinander her. Der erste ist schon gestürzt, der zweite im Begriff zu fallen. Allegorie des Menschen in seiner Blindheit und Unbeholfenheit? Welch ein Menschenbild! Die Kirche im Hintergrund hilft hier auch nicht mehr, und daß mit solchen Kreaturen der Turmbau zu Babel gescheitert ist, leuchtet ein. Über Bruegels großartiges Bild dieser Wahnsinnstat könnte man ein eigenes Buch schreiben.


Pieter Bruegel, Der Blindensturz (1568)

Mit dem vollständigen Werke Pieter Bruegels wird sich der Interessierte lange und intensiv beschäftigen wollen. In umfangreichen, sachkundigen Essays erläutern Jürgen Müller (Professor für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte an der TU Dresden) und Thomas Schauerte (Leiter des Albrecht-Dürer-Hauses in Nürnberg) Pieter Breughels Tafeln, Bilder, Kupferstiche und Zeichnungen, ordnen seine subversive Ästhetik und sein Werk in die europäische Kunstgeschichte ein und sehen ihn als „Humanist mitten in den philosophischen, politischen und religiösen Diskussionen seiner Zeit“. Im Katalog werden Geschichte und Standort der Werke angegeben. Das umfangreiche Literaturverzeichnis regt zu weiterem Studium an. Der prächtige Band mit vorzüglichem Druck aller 39 Gemälde, seiner 65 Zeichnungen und seiner 89 Kupferstiche erscheint anläßlich seines 450. Todestages passend zur aktuellen Ausstellung im Wiener Kunsthistorischen Museum.
 
Jürgen Müller, Thomas Schneider – „Bruegel – Das vollständige Werk“
© 2018 TASCHEN GmbH, Köln. 492 Seiten, Hardcover mit Ausklappseiten, 29x39,5 x6 cm, ISBN: 978-3-8365-5688-0
150,- €
 
Weitere Informationen: https://www.taschen.com/

Redaktion: Frank Becker