Seh-Reise (43)

Dreiundvierzigste Ausfahrt: Albrecht Dürer

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (43)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
43. Ausfahrt: Albrecht Dürer
 

Eine frühe Botschaft
 
Dürers Feldhase von 1502 – ein fester Wert in der deutschen Malerei, und das seit mehr als einem halben Jahrtausend. Der Reiz dieses ebenso schönen wie genauen Bildes nach der Natur ist unverbraucht, und viel spricht dafür, daß es eine Weile auch noch so bleibt. Welche ungeahnten Abbildungstechnologien mit der Zukunft auf uns zukommen mögen – der Zauber dieser von Hand angefertigten Tierstudie auf einem Stückchen Papier von 25 x 22,5 Zentimetern, nicht wesentlich größer als diese Kunstpostkarte, wird niemals erlöschen.
1948 bekam ich sie geschenkt, zu meinem vierten Geburtstag. Damit ist Dürers Hase einer der frühesten Nachweise meiner Existenz. Von den beiden Gratulanten, „Tante Grimm u. Ehrengard“, ist mir nur ein höchst verschwommenes Bild geblieben, am ehesten noch von „Tante Grimm“, der Schreiberin des Grußes.

Eine alte, uralte Frau war das in den Augen des Kindes. An straffes dunkles Haar erinnere ich mich, mit einem Knoten hinten. Sie war die Besitzerin des Hauses am Hang über dem Main, in dessen Mansarde Mutter 1945 mit ihren drei Söhnen Unterschlupf gefunden hatte nach der Flucht aus dem Osten. Hier warteten wir (vergebens) auf Vaters Rückkehr aus dem Krieg. Sonst weiß ich von „Tante Grimm“ nur noch das eine: Wie sie gegen Abend das Haus verläßt, das schwarze Buch in der Hand, mit einem Palmwedel in Gold auf dem Deckel. Tag für Tag suchte sie im Tal die Kirche auf zum Gebet. Für uns kam dergleichen nicht in Betracht, und deshalb wohl sind mir Dürers Betende Hände als Geschenk zum vierten Geburtstag erspart geblieben. Gottlob. Das Häslein war putziger und hat dem kleinen Buben sicher mehr Freude gemacht.
Daß diese Karte der Anlaß war, mich in manchen Phasen meines Lebens mit Albrecht Dürer zu befassen, mag ich nicht behaupten. Aber da wir so wenig wissen über das, was in den Köpfen (und Herzen) von Kindern geschieht, will ich es auch nicht ausschließen. Ein kleiner Bildband von Dürer (mit Häschen!) gehört jedenfalls zu den ersten Büchern, die ich mir als Schüler von meinem Taschengeld angeschafft habe. Sein Kauf am „30.6.64“ ist auf dem Vorsatzblatt festgehalten, ebenfalls mit Füllfederhalter und in ähnlicher Schönschrift wie auf „Tante Grimms“ Geburtstagskarte.
Weite Lebenswege sind also abgegangen, wenn ich jetzt eine Woche lang Wiedersehen feiere mit Dürers Feldhasen, aus der sachlichen Distanz eines Kunstbetrachters. Und doch begeistere ich mich heute unvermindert für die hohe malerische Qualität des Blättchens, mit dem ganzen Charme des Nebenbei ausgeführt, von lockerer Meisterhand, die nicht den Ehrgeiz eines Altarbildes oder eines repräsentativen Kaiserporträts beschwert. Ein Aquarell. So wie Kinder zum Malen kommen: mit Wasserfarben.


Bloß ein Häslein – aber wie! Nach der Untermalung von Hell und Dunkel auf dem Fell hat Dürer mit spitzem Pinsel anschließend die Haare aufgesetzt, den weichen Flaum an Brust und Flanke, in rascher Strichfolge, daß ihm der Pinsel nicht trocken wird. Da sitzt jedes Haar an seiner Stelle, ohne dabei auch nur eine Spur penibel zu wirken. In halber Aufsicht gegeben, daß wir auf das Wildtier herabblicken und doch auch auf seiner Höhe sind, ist es festgehalten, in sich ruhend und gleichzeitig auf dem Sprung, sobald es Gefahr wittert.
In diesem Jahr des Hasen, 1502, war Dürer bereits ein über die Grenzen anerkannter Meister, mit 31 Jahren, dessen Bilderfindungen überall in Europa kopiert und nachgeahmt wurden. Gleichzeit mit dem Aquarell arbeitete er an den Tafeln des Paumgartner Altars und an dem Holzschnitt-Zyklus aus dem Marienleben. Seine zweite Reise nach Italien stand an, auf der Flucht vor der Pest in seiner Heimatstadt Nürnberg. Und „nebenbei“ gönnte er sich dieses virtuose Kunststückchen: So sieht es aus, wenn Künstler sich entspannen.
Selbst Kinder erfreuen sich daran, seit so vielen Jahren, und bis heute. Und so mancher andere Maler auch.
 
Albrecht Dürer, Der Feldhase, 1502. Aquarell, 22 x 22,5 cm, Albertina, Wien
 

Redaktion: Frank Becker