Meryams Rede

Eine Erzählung

von Safeta Obhojas

Meryams Rede
 
Mit beiden Händen auf den beiden Heiligen Büchern
 
von Safeta Obhodjas
 
 
Anne ist am Telefon!
Anne aus der Büchse der Pandora meiner Vergangenheit!
„Meryam, hier ist Anne! Erinnerst du dich an mich? Oder hast du mich vergessen?“
Vergessen? Wie hätte ich jemals den Tag meiner Rettung vergessen können?
Die berühmte Geschichte mit der Bibel! Und Anne stand mir immer bei, während ich mich durchs Labyrinth des deutschen Sozialsystems hindurchboxte und zu einer stabilen Persönlichkeit therapiert wurde.
Als Teenie war ich die ziemlich ungehorsame Tochter einer aus dem Libanon stammenden Familie. Statt zur Koranschule ging ich lieber mit meiner Clique ins Kino, trotz des Verbotes nahm ich am Schwimmunterricht teil und verabscheute alle Werte der aus der alten Heimat mitgebrachten Tradition. Mein Benehmen entsprach nicht den Wünschen meiner Mutter, die fest entschlossen war, mich, ihre schöne, unschuldige Tochter mit einem hochkarätigen Kriminellen aus einem anderen Ghetto zu verheiraten.
Für meine Rebellion wurde ich hart bestraft, meine Haut trägt noch immer die Spuren aus dieser Zeit: eine Narbe hinter dem rechten Ohr, eine im Nacken. Die dicke über der Schläfe ließ ich durch eine Laserbehandlung etwas retuschieren. Besonders hart waren die Schläge meines ältesten Bruders und eines Onkels, die von meiner Mutter angestiftet wurden. Alle Entscheidungen in der Familie traf sie, und sie schwor, nie weich zu werden. Schwören, das war ein Brauch bei uns.
Auf einem Regal im Wohnzimmer stand ein sehr schönes Koran-Exemplar, eine ihrer Reliquien aus der alten Heimat. Dieses war nicht zum Lesen da. Mit der rechten Hand auf dem Heiligtum führten die Familienmitglieder ihre Schwüre aus. Mein Vater tat das oft, wenn er dem Alkohol abzuschwören versuchte, mein älterer Bruder, wenn seine Spielsucht ihn zu Boden warf. Ihre Schwüre waren nicht von langer Dauer. Aber meine Mutter hielt hartnäckig an ihrem fest: Solange sie lebe, würde sie nicht zulassen, daß sich Meryam in eine verdorbene Deutscharaberin verwandelte.
Es war nicht einfach, meine Blessuren zu kaschieren. Wenn sie trotz meiner Anstrengungen, sie zu vertuschen, sichtbar blieben, bemühten sich sowohl die Mitschüler als auch die Lehrer sie zu übersehen. Nur Anne nicht! Oft kam sie zu mir und versuchte, mein Vertrauen zu gewinnen. Sie erzählte mir von ihren Eltern, die sich immer für die Schwächeren einsetzten. Ihre Mutter leitete einen eigens gegründeten Verein für die „Rettung von Mädchen und Frauen aus den Zwängen gewalttätiger Sippen“.
Als ich eines Tages mit einem Stirnband in die Schule kam, das eine dicke Beule verdeckte, kam Anne direkt zu mir und meinte, mein Leid sei nicht länger zu ertragen. Ihre Eltern würden darüber mit der Schulleiterin sprechen.
Am kommenden Abend verstaute ich meine Schulsachen und ein paar Habseligkeiten in einen großen Rucksack, mit dem ich spät in der Nacht mein Elternhaus verließ, für immer. Versteckt im Keller des Hauses, wo Annes Familie wohnte, wartete ich auf einen freien Platz in einem Jugendheim.
 
Es war ein wunderschöner Tag im Frühjahr, so warm, daß Anne das Frühstück auf einem Tisch auf der Terrasse servierte. An diesem ersten Ferientag blieben wir allein zuhause, Annes Eltern waren zu einer Demo gegangen und ihr älterer Bruder befand sich gerade als Austauschschüler irgendwo in England. Ich saß auf einem hohen Hocker am kleinen Kellerfenster, mit einem Tablett auf den Knien und so frühstückten wir, sie unter der Sonne, ich drinnen, im Halbdunkel, unsichtbar für die Welt draußen.
„Ich hoffe, niemand weiß ...“, begann sie und verstummte. In meinem Blickfeld erschienen zwei Paare Beine und ein langer Mantel.
„Anne, sag nichts!“, zischte ich und blieb wie erstart. In diesem Moment wurde mir vollkommen klar, daß mein Leben nur von Annes Courage abhing. Annes nackte, lange Beine wirkten wie zwei Streichhölzer im Vergleich zu den stämmigen Beinen der Männer. Meine Mutter trug den Mantel, den ich, seit ich denken konnte, haßte.
Die Drohungen des Onkels in gebrochenem Deutsch waren unverständlich, aber sein Ton konnte jedem Angst einjagen. Anne wiederholte mehrfach: „Verschwinden Sie, oder ich rufe die Polizei!“
Ich konnte nur die Bewegungen ihrer Beine sehen. Mein Bruder schob den Onkel beiseite und sprach Anne ruhig an.
„Mädchen, keine Angst, wir haben mit dir nichts zu tun! Sag uns nur, wo wir Meryam finden können.“
„Wovon redest du? Ich habe Meryam seit Tagen nicht gesehen“, schrie Anne und ich konnte fast spüren, wie ihr die Knie zitterten. Ich hielt mein Handy fest in der Hand, hatte aber keinen Mut, die Polizei anzurufen. Ich schämte mich, aus so einer Familie zu stammen, ich schämte mich, Anne in so eine Situation gebracht zu haben. Wenn sie nachgeben würde, würde ich die Nacht nicht überleben.
Auf einmal begann meine Mutter ein Wort in unserer Sprache zu kreischen: „Schwören!“ Sofort war mir klar, was sie beabsichtigte. Schwören, wie bei uns zuhause, mit der rechten Hand auf dem Heiligen Buch. Sie zog ein Buch aus der Handtasche und ich sah, daß es nicht der Koran war, den ich gut kannte, sondern eine Bibel.
„Meine Mutter glaubt dir nicht“, brummte mein Bruder. „Leg die rechte Hand auf die Bibel! Kannst du schwören, daß du Meryam seit Tagen nicht gesehen hast? Du mußt uns die Wahrheit sagen!“
Meine innere Stimme lachte über dieses Theater. Gleichzeitig zitterte ich vor Angst, zumal ich keine Ahnung hatte, ob Annes Familie gläubig war oder nicht.
„Ihr seid nicht ganz dicht im Kopf“, hörte ich Anne murmeln, als sie begriff, was sie von ihr verlangten. Dann deklamierte sie ihre Schwüre, als befände sie sich auf einer Bühne.
In diesem Moment erschien die von den Nachbarn alarmierte Polizei und meine Familie machte sich schnell aus dem Staub. Anne und ich atmeten laut auf und redeten durcheinander. Ich wollte mich bedanken, und Anne wiederholte mehrmals: „Was für eine … heilige Lüge!“
Am nächsten Tag wurde ich in einem Frauenhaus untergebracht, danach hatte ich das Glück, in einer betreuten Jugend-WG zu landen, deren feste Strukturen mir halfen, mich gut auf die Abiturprüfungen vorzubereiten.
Als ich einen Platz fürs Jurastudium bekam, rief ich Anne sofort an, um ihr diese Super-Neuigkeit mitzuteilen. „Du hast mir beigestanden, als mir das Wasser bis zum Hals stand, aber ich mache nun etwas daraus“, sprudelte es aus mir hervor. Sie sagte nur: „Hast du die Latte nicht zu hoch gelegt?“ Ihre Frage kränkte mich so sehr, daß ich unsere Freundschaft auf der Stelle abbrach. Viele Jahre herrschte Funkstille zwischen uns, bis ich eines Morgens ihre Stimme aus dem Hörer vernahm. „Meryam, hier ist Anne. Erinnerst du dich?“

 
Lesen Sie morgen an gleicher Stelle Teil 2 der Erzählung von Safeta Obhodjas