Anekdoten

Klatsch und Tratsch mit Menschlichkeit

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Anekdoten
 
Von Ernst Peter Fischer
 
     
Klatsch und Tratsch mit Menschlichkeit
 
Anekdoten handeln von Personen, sie sollen lustig sein und den lächelnden oder schmunzelnden Leserinnern und Zuhörern (oder umgekehrt) auf wenigen Zeilen – und nicht über viele Seiten hin – eine Pointe präsentieren. Sie sollte mit dem, was sich ereignet hat und erzählt wird, eine angenehme Menschlichkeit erkennen lassen und dabei hoffentlich so viel Vergnügen bereiten, dass man die kurzen Geschichten gerne weiterreichen und mit anderen teilen möchte. Dies vor allem dann, wenn sich mit dem Erzählten etwas erfassen und begreifen läßt, was überraschender- und glücklicherweise zu der eigenen Kultur gehört und was man aus diesem Grund gleich im Anschluß an das Lesen mit anderen erörtern möchte.
                In diesem Band finden sich Anekdoten aus dem Bereich der Naturwissenschaft, also (möglichst) witzige Episoden aus dem Leben von pfiffigen Physikern, schlagfertigen Biologen und anderen manchmal mehr und manchmal weniger bekannten Forschern. Der Erzähler hofft dabei, mit ihrer Hilfe das von vielen emsigen und neugierigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eingegangene und in Angriff genommene große geistige Abenteuer der Menschheit zu einem attraktiven Stoff für fröhliche und offene Gespräche machen zu können – und dies trotz all seiner Schwierigkeiten zum einen für den gesunden Menschenverstand und zum zweiten bei den ethischen Entscheidungen über die Tragweite der Wissenschaft in einem Umfeld mit zunehmender Komplexität und wachsenden Bedürfnissen. Noch immer stehen selbst viele Journalisten und andere kluge Leute fassungslos vor vielen Ergebnissen und Entwicklungen, Potentialen und Problemen der Naturwissenschaften – Stichworte liefern die Gentechnik, die Energiewenden, die Quantensprünge und die Digitalisierung –, die ihnen trotz aller Aktualität und Brisanz äußerlich und damit eigentlich unverstanden bleiben. Vielleicht liefern Anekdoten der hier erzählten Art den Anschluß Suchenden einen kaum noch erhofften passenden Zugang zu dem Terrain, auf dem sich aller Fremdheit zum Trotz möglichst viele Menschen auskennen sollten, weil hier die Zukunft vorbereitet wird, auch wenn das im sozialen und historischen Umfeld häufig zu spät bemerkt wird.
                Natürlich klingt der Satz gut und zustimmungsfähig, „Was alle angeht, können nur alle lösen“, wie es in den „Physikern“ von Friedrich Dürrenmatt heißt. Doch diese vernünftige Vorgabe funktioniert nur, wenn die Gemeinten, also „alle“, etwas von dem verstehen, mit dessen Hilfe es überhaupt Lösungen gibt, also von der Wissenschaft. Zu verstehen, was der Fall ist, scheint dabei ganz allgemein von Vorteil bei Dingen zu sein, die jeden etwas angehen, und die technische Entwicklung, die durch Forschungen möglich werden, gehören seit vielen Hundert Jahren dazu, auch wenn in den meisten Geschichtsbüchern nicht viel darüber zu finden ist und Sozialwissenschaftler immer noch der Ansicht sind, man braucht einen Reaktorkern weder von einem Atomkern noch von einem Zellkern zu unterscheiden, wenn man politisch gewichtig und lautstark mitreden will, und zwar gerade dann, wenn sie merken, daß sie trotz dieses Mankos ungebrochen Gehör finden, weil man ja bei der Verständnislosigkeit im gleichen Boot sitzt.  
                Dieses Buch bietet die Möglichkeit, sich mit der treibenden Kraft der Wissenschaft dank der Hilfe von Anekdoten zu befreunden. Anekdoten gibt es seit den späten Tagen der Antike, und der Anfangsbuchstabe A drückt vor allem aus, was die jeweils präsentierte Begebenheit nicht liefern will, nämlich so etwas wie einen Beitrag zur offiziellen Geschichtsschreibung. So wie ein Atom unteilbar ist, kann die Anekdote unteilbar in dem Sinne sein, daß zwar das große Ganze stimmt, aber nicht unbedingt alle Kleinigkeiten zutreffen. Anekdoten treten wie Atome vor einem realen Hintergrund auf, ohne völlig in ihm aufzugehen. Es geht weniger um höchste Korrektheit und mehr um „Wahre Geschichten, erlogen von Loriot“, wie eines der Lieblingsbücher aus den Teenagertagen des Autors hieß. Und es geht vor allem um „Klatsch und Tratsch“, wie ihn nicht nur alle Menschen gerne hören und verbreiten, sondern wie auch das Buch heißt, in dem der Evolutionsbiologie Robin Dunbar sich Gedanken über den phylogenetischen Ursprung der menschlichen Sprache macht und auf den sozialen Kitt verweist, der durch das emsige Tuscheln von Ohr zu Ohr zustande kommt, das viele Menschen so gerne voller Vergnügen hinter vorgehaltener Hand betreiben. Wer sich mit Freunden und Kollegen unterhält und dabei in entspannter Runde köstlich amüsiert, wird wissen und merken, wie gerne unter- und übereinander getratscht wird und wie begeistert man Klatschgeschichten austauscht und miteinander teilt. Und die ersten spätantiken „Anekdota“ enthielten vor mehr als tausend Jahren genau das, was nach wie vor beliebt ist und einigen bunt illustrierten Zeitschriften bis heute als Existenzgrundlage dient, nämlich Klatsch – damals über einen Kaiser und seinen Hofstaat, und heute über Präsidenten und daneben auch über Film-, Pop- und Sportstars und manche B-Prominente, die sich um die Aufmerksamkeit der Berichterstatter bemühen und manchmal zu absonderlichen Mitteln greifen, wie man sie täglich in den Medien geliefert bekommt.
                Als der Historiker Prokopius von Caesarea im 6. Jahrhundert nach Christus die ersten „Anekdota“ verfaßte, wollte er seinen Herrscher Justinian I. kritisieren und der Lächerlichkeit preisgeben, was sowohl kurzfristig gelungen ist als auch eine langfristige Nebenwirkung mit sich gebracht hat. Mit den von ihm geschaffenen Anekdoten kam nämlich ein literarisches Genre zustande, an dem sich Poeten immer mal wieder versucht haben, auch wenn viele Geschichten nur auf der klanglichen Ebene bleiben und sich in mündlicher Form tradiert finden, ohne als Text vorzuliegen. Mit Anekdoten können Menschen bei vielen Gelegenheiten ihrer natürlichen Neigung zu Klatsch und Tratsch nachgehen. Und wenn sie sich dabei nicht nur auf Personen einlassen, die sie als Künstler, Philosophen und Politiker bewundern – wer wüßte sich nicht an das zu erinnern, was der weise Diogenes seinem großen Herrscher Alexander geantwortet hat, als der griechische König den Mann in der Tonne fragte, was er für ihn tun könne, nämlich „Geh´ mir aus der Sonne“ –, sondern auch historische Figuren mit in ihre Gespräche einbeziehen, denen sie die Kultur der Naturwissenschaften verdanken, kann die Welt, in der sie leben, nur besser werden. Es stimmt einfach: „Wissenschaft wird von Menschen gemacht“, und Anekdoten können helfen, neugierig auf sie zu werden, auf die Menschen ebenso wie auf deren Wissenschaft.
 
 
© Ernst Peter Fischer
Vorabdruck der Einleitung zu einem Buch von Ernst Peter Fischer, das
2019 im Reclam Verlag erscheinen wird.