So viel Liebe!

Amélie Nothomb – „Happy End“

von Frank Becker

So viel Liebe!
 
Amélie Nothombs jüngster Roman

Trauen Sie nicht immer dem Klappentext eines Verlages, liebe Leser! Bei diesem kleinen, nichtsdestoweniger grandiosen Roman der belgisch/französischen Romancière Amélie Nothomb würden Sie auf eine ganz falsche Fährte gelockt.
Sehr frei nach Charles Perraults Märchen „Riquet mit der Locke“ (Ende 17. Jh.) erzählt Amélie Nothomb in ihrem jüngsten Buch die Geschichte zweier Außenseiter der Gesellschaft, die in der Tradition des beliebten Themas„La belle et la bête“ vom Schicksal zueinander getragen werden. Victor Hugo hat das Thema 1831 in „Der Glöckner von Notre Dame“ aufgegriffen und Gaston Leroux 1909 in „Das Phantom der Oper“.
 
Der schon als Säugling so abgrundtief häßliche Déodat, daß niemand ihn recht ansehen wollte, der deshalb als Junge verspottet wird und keine Freunde findet, aber von seinen Eltern innig geliebt wird, entwickelt sich dank überragender Intelligenz und weiser Einsichten zu einem autarken Mann und berühmten Ornithologen. Aus nicht erklärlichen Gründen wird er von den hübschesten Mädchen begehrt, erlebt oberflächliche erotische Affären, lehnt eine feste Verbindung aber ab. Seine Erfüllung findet in der Beobachtung der gefiederten Bewohner des Himmels, der sich über seinem Alltag wölbt.
Trémière hingegen ist bereits als Baby so zauberhaft, daß jeder sie ununterbrochen anschauen möchte. Ihre beinahe überirdische Schönheit nimmt mit den Jahren noch zu, als sie im Haus der etwas geheimnisumwobenen Großmutter aufwächst – doch auch sie bleibt paradoxerweise der Schönheit wegen einsam. Erst die Schulkameradinnen, dann die Frauen beneiden sie, meiden sie, weil sie den Vergleich fürchten und hassen sie aus Mißgunst. Ihre Schweigsamkeit wird ihr als Dummheit ausgelegt, und Männer sehen in ihr im Grunde nur das schöne Objekt, dessen schönes Gesicht als Aushängeschild für eine Parfum-Marke Furore macht.
Gemeinsam ist Déodat und Trémière ihr distanzierter Umgang mit der Umwelt und das Vermögen, aus dieser Distanz die Dinge genau zu betrachten und in ihrem Wesen gültig zu erfassen. Als sie sich, aus Gründen der Einschaltquoten zu einer Talkshow eingeladen, per Zufall vor der Sendung in der Garderobe begegnen, genügt ein Blick, und es ist um beide geschehen. Ein Happy End ohne Haken, Fallen und Wendungen.
 
Amélie Nothomb erzählt dieses moderne Märchen mit hochsensiblem Mitgefühl, großer  Liebe für ihre Protagonisten, zugleich mit soviel Witz und Situationskomik, daß Traurigkeit, gar Mitleid für das Schicksal der beiden von der Gesellschaft an den Rand geschobenen jungen Menschen gar nicht erst aufkommen möchte. Selten zuvor habe ich bei der Lektüre eines Romans einerseits so viel Lebensfreude und Trost empfunden, andererseits gespürt, wie die Liebe sich Seite für Seite tiefer im Leserherzen festsetzt. Dafür unser Prädikat, den Musenkuß!
 
Amélie Nothomb – „Happy End“
Aus dem Französischen von Brigitte Große
© 2018 Diogenes Verlag, 187 Seiten, Ganzleinen mit Schutzumschlag – ISBN: 978-3-257-07042-2
20,- €
Weitere Informationen: www.diogenes.ch