Stürmischer Applaus, Bravi, Bravissimi und stehende Ovationen

Igor Levit beim Klavierfestival Ruhr in Wuppertal

von Johannes Vesper

Igor Levit - Foto: KFR Wuppertal

Igor Levit beim Klavierfestival Ruhr in Wuppertal
 
Von Johannes Vesper
 
Wegen eines leichteren Unfalls hatte der inzwischen 77jährige Maurizio Pollini jetzt zum 2. Mal abgesagt. Ursprünglich war sein Konzert in Wuppertal schon für den 30. Mai 2018 geplant gewesen. Schade, man hätte den großen alten Pianisten gerne hier gehört. Daß Igor Levit für ihn einspringt und auch sein Programm im Großen Saal der Historischen Stadthalle Wuppertal weitgehend übernimmt, ist ein Glücksfall und nach dem 2. Stiftungskonzert, nach Helene Grimaud und Andras Schiff ein weiterer Höhepunkt des Klavierjahres 2018 in der Historischen Stadthalle auf dem Johannisberg.
 
Der 31jährige in Nizuni Nowgorod geborene Igor Levit lebt mit seiner Familie seit seinem 8. Lebensjahr in Deutschland, studierte in Hannover, gewann 2005 die Silbermedaille im Arthur Rubinstein Wettbewerb, konzertiert inzwischen regelmäßig mit den großen Orchestern der Welt und erhielt zahlreiche Ehrungen. Zum 11. Mal spielte er jetzt beim Klavierfestival Ruhr.
 
Amüsante Hörvergnügen
 
Pathétique und Hammerklaviersonate von diesem Weltstar: das versprach ein musikalisches Erlebnis der Sonderklasse. Zur Einleitung spielte er Beethovens Sonate Nr. 10 in G-Dur op. 14/2. Die beiden Sonaten op. 14 entstanden gleichzeitig mit der Pathétique und sind seiner Gönnerin Baronin Braun gewidmet, die selbst hervorragend Klavier gespielt hat. Zum spielerischen, lyrischen Beginn der Sonate Nr. 10 gesellen sich bald geschwinde Tonrepetitionen, Wechsel der Themen vom hohen zum tiefen Register und zurück, heitere Unterbrechungen des musikalischen Flusses durch aufregende, in der Höhe plötzliche abbrechende Läufe. Die Durchführung beginnt geheimnisvoll in Moll, später führt die linke Hand, dann greifen die Hände in beide Richtungen übereinander. Überraschend endet der 1. Satz nach einer Generalpause leise. Der langsame 2. Satz mit ruhigen, nicht lauten Stakkatoakkorden, eingesprengten Variationen (erstmalig in Beethovens Sonaten) und rhythmischen Verschiebungen, erklang nobel, kammermusikalisch verhalten in dem abgedunkelten Saal mit einer Delikatesse, wie man sie selten hört. Am Schluß der kurzen Coda wirklich überraschend, bereitete der in solchem Fortissimo unerwartete Schlußakkord auf das Scherzo des 3. Satzes vor. Das muntere Rondo jagte flott, unterhaltsam unter Tonartwechseln dahin und sprudelte munter seinem im pianissimo verhauchten Ende entgegen. Welch amüsantes Hörvergnügen!
 
Jedem Zuhörer in Wuppertal wird übrigens empfohlen bei Twitter (@igorpianist) diesen Pianisten auch als politischen Menschen zur Kenntnis zu nehmen, der zuletzt den Echo-Preis zurückgegeben hat, weil er weder den Antisemitismus der Rapper noch die Geschmacklosigkeit der Jury ertragen konnte und dagegen Stellung beziehen wollte. Auch zum Migrations- und Flüchtlingsproblem äußert er sich dort eindeutig. Also bitte lesen! Aber zurück zu Beethoven in Wuppertal.
 
In der Pathétique (ebenfalls von 1798/99) mit langsamer düsterer Grave-Einleitung, ist dann aber Schluß mit der Eleganz und Idylle der Spätklassik. Musikalisch spiegelt sich im Werk zeitgerecht die Revolutionszeit. Das scharf punktierte Einleitungsmotiv mit dem 32stel Oktavsprung als Auftakt zu Takt 2 läßt schon die musikalische Energie des Werkes ahnen, nimmt mit virtuosem con brio napoleonischen Sturm vorweg. Der Pianist Abbé Gelinek kommentierte die Auftritte Beethovens zu dieser Zeit, sprach von einem „kleinen häßlichen, schwarz und störrisch aussehenden junger Mann”, in dem „der Satan” steckte. Jedenfalls hatte dieser mit der Pathétique die Klaviersonaten Haydns und Mozarts weit hinter sich gelassen und mit der Leidenschaft eines 28jährigen Klanggebirge erfunden, wie man sie bis dahin noch nicht gehört hatte. Mit Trommelbässen, Sforzati, expansiver Dynamik und Virtuosität reiben sich Verzweiflung und Hoffnung aneinander. Maximales Fortissimo wechselt mit verhaltener Lautstärke. Harmonisch wird im pianissimo die Basis für die Durchführung gesucht. Gewalt gehört zur Revolution. Davon kann sich der Zuhörer im Andante cantabile des 2. Satz entfernen und in höhere seelische Sphären entführen lassen. Dieses „Lied ohne Worte“ weist voraus auf den Beginn der Romantik in der Musik und versetzt die Seele des Zuhörers in leise 6/8 Schwingungen. Hoch konzentriert und sensibel, vorgebeugt über die Klaviatur, bannt der Pianist sein Publikum. Im virtuosen Rondo des 3. Satzes werden die musikalischen, existentiellen Konflikte nicht gelöst. Begeisterter Applaus. In der Pause war das Publikum zum Dank für sein Verständnis der notwendig gewordenen Umbesetzung zum Umtrunk eingeladen.


Igor Levit - Foto: KFR Wuppertal

Beethovens gewaltigste Sonate
 
Anschließend gab es dann die Hammerklaviersonate B-Dur op. 106 von 1818. Mit dem Begriff „Hammerklavier“ wurden damals Tasteninstrumente bezeichnet, bei denen im Gegensatz zum Cembalo die Saiten mit Hämmern angeschlagen und nicht mehr angezupft wurden. Inzwischen durch „Pianoforte“, „Klavier“ oder „Flügel“ ersetzt, wird der Begriff heute für historische Bauformen der Hammerklaviere benutzt. Beethoven nannte seine 29. Sonate Hammerklaviersonate und versah sie mit Metronomangaben. Mehr als 8 Monate hat er an seiner längsten (ca. 45 Min. !)Sonate, vielleicht gewaltigsten und herbsten komponiert, während es ihm wirklich alles andere als gut ging. Wochenlang war er in dieser Zeit ans Bett gefesselt wegen unklarer Fieberschübe (katarralisches Fieber?), gab viel Geld für seine medizinische Behandlung aus, und das Gehör verschlechterte sich so, daß er auf Konversationshefte zurückgriff, also aufschrieb, um mit seiner Umwelt zu kommunizieren. Beidhändige, vollgriffige, punktierte Akkorde, synkopierte Oktaven, in schnellem Fortissimo (Sextolen, Septolen 64stel) zu Beginn erfordern unglaubliche Technik und Kraft. Mit klugem und überlegtem Pedaleinsatz gewann die Dynamik an Ausstrahlung. Nach der langen Exposition wird in der gigantischen Durchführung das gesamt Themenmaterial durcheinander gewirbelt. Mit einem geschwinden Scherzo des 2. Satzes konterkariert der Komponist den bedeutungsvollen 1. Satz mit Allegro vivace und Presto. Nachdenklich beginnt der langsame 3. Satz – Appassionata e con molto sentimento in fis-moll- mit ruhigen Akkorden, bevor sich das Thema hoch über dunklen Begleitakkorden erhebt und in Variationen ausgedeutet wird. Thematisch glaubt man schon Johannes Brahms zu hören. Dieser langsame Satz beeindruckte tief und war zweifellos der musikalische Höhepunkt des Abends. Gebannt lauscht das Publikum als mit zögerlich suchenden Fragmenten, nahezu improvisatorisch frei in suchendem Pianissimo der letzte Satz vorbereitet wird, der, lange Zeit für unspielbar gehalten, mit komplizierter Fuge, Trillern, Akkordkaskaden in seiner Widerspenstigkeit, Komplexität und Herbheit bei kaum identifizierbarer musikalischer Struktur weit in die Zukunft weist. Wie diese gewaltige Musik wohl auf einem Hammerklavier zu Beethovens Zeiten geklungen haben mag? Nein dazu bedarf es eines modernen Flügels mit allen seinen Qualitäten. Mit
frappanter Virtuosität, Kraft, Souveränität und Präsenz stellte sich Igor Levit dieser Herausforderung und nahm anschließend bescheiden den stürmischem Applaus, die Bravi, Bravissimi und die stehenden Ovationen des begeisterten Publikum entgegen. Ergreifend, mit welch tiefem Ausdruck sich der Pianist vom Publikum mit den letzten beiden Kinderszenen op. 15 Robert Schumanns verabschiedete. Herzlichen Dank ihm, daß er hier in Wuppertal eingesprungen ist.
 
Der Interessierte sei auf das jüngste Album des Pianisten („Igor Levit, Life“ bei Sony) hingewiesen, auf dem u.a. Bearbeitungen Bachscher Werke von Busoni und Brahms, Wagner, Liszt, Schumann (Geister-Variationen), Frederic Rzewski (A Mensch) und Bill Evans (Peace Piece) zu hören sind. Das Album wird am 5.10.2018 auf den Markt kommen.