„Du Rotkopf, zieh mit uns, wir gehen nach Bremen“

Ortsbezeichnungen in den Märchen der Brüder Grimm

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
„Du Rotkopf, zieh mit uns,
wir gehen nach Bremen“
 
Ortsbezeichnungen in den Märchen der Brüder Grimm
 
Von Heinz Rölleke
 
Beschäftigt man sich näher mit den 211 Texten in den Grimm'schen „Kinder- und Hausmärchen“ in Gestalt der weltweit verbreiteten Ausgabe Letzter Hand von 1857, um einige allgemein verbindliche Gattungseigentümlichkeiten zu erkennen, so ist das durchgängige Fehlen von konkreten Orts- und Zeitangaben wie auch von individuellen Namen unübersehbar. Hans und Grete („Hänsel und Gretel“) waren früher Allerweltsnamen wie Hinz und Kunz (vgl. „Rumpelstilzchen“); Rotkäppchen, Allerleirauh oder Schneeweißchen und Dornröschen sind Redende (nach Kleidung, Aussehen oder Schicksal der Märchenheldin umschreibende) Namen. Das stereotype „Es war einmal“ schließt genauere oder gar konkrete Zeitangaben kategorisch aus.
 
Mit genauen Ortsbezeichnungen beginnen, die meisten Lokalsagen: Bei Bacharach am Rhein sitzt die Loreley auf einem Felsen, in Hameln gab es einen Rattenfänger, „die Stadt Elberfeld soll ihren Namen von den Elben tragen“ (Beispiele aus Grimms und Bechsteins Sagensammlungen). Derartige Ortsnennungen scheinen in Grimms Märchen konsequent ausgespart. Trotzdem bemüht sich die Touristik-Branche mit ständig expandierendem Erfolg, Örtlichkeiten auszumachen, in denen gewisse Märchen angeblich spielen. Vor allem die 1975 kreierte, inzwischen weltweit bekannte „Deutsche Märchenstraße“ wartet mit zahlreichen Ergebnissen auf. Der Name des Unternehmens läßt nicht erkennen, daß die meisten der zwischen Hanau und Bremen beworbenen Orte durchaus seriös nach Wohnorten der Brüder Grimm, ihrer Beiträger oder eben nach den örtlichen Fixierungen bestimmter Sagen ausgewählt wurden. Dazwischen aber sind ohne tragfähige Anhaltspunkte Märchenlokalisierungen platziert, die nur scheinbar (literar)historisch beweisbar sind, von den meisten Touristen der „Märchenstraße“ indes für bare Münze genommen werden. So präsentieren sich etwa mit Lohr und Bad Wildungen gleich zwei „Schneewittchen“-Städte, Alsfeld oder die Sababurg im Reinhardtswald als Schauplätze der Märchen von Rotkäppchen oder Dornröschen. Unter all den für die Touristenstraße okkupierten Orten hat allein Bremen durch Nennung in einem weltbekannten Märchen seriösen Anspruch auf einen Platz auf der Route – genau genommen könnte man auch das bezweifeln, denn die vier präsumtiven „Stadtmusikanten“ sind ja auf ihrer Wanderung gar nicht bis Bremen gekommen.
 
Wie steht es aber nun tatsächlich um die Ortsnamen in Grimms Märchensammlung? Es begegnen uns nur eine Handvoll, und davon sind die meisten als bloße Aufzählungen in Schwänken und Lügengeschichten zu finden. So werden der Rhein und die Mosel im „Dietmarsischen Lügen-Märchen“ sowie in den Geschichten von den Sieben Schwaben oder vom Schlaraffenland genannt. In letzterem werden auch Rom, Regensburg, Trier und Straßburg im Zusammenhang mit unmöglichen Dingen aufgezählt. Sie spielen für die Situierung der jeweiligen Geschichten keine nennenswerte Rolle.
 
Die Brüder Grimm wurden sich der Gattungsgesetzlichkeiten des Märchens im Lauf ihrer lebenslangen Arbeit an der Sammlung immer stärker bewußt. So verschwand der Name des Städtchens „Romandia“, von dem noch in der Erstfassung des „Tapferen Schneiderleins“ von 1812 im Einleitungssatz die Rede ist, seit der Zweitauflage der Märchen von 1819 spurlos aus dem Text. Vergleichbar verfuhren sie 1843 bei der Übernahme des Märchens vom Hasen und Igel, als sie die in der Überschrift zu ihrer Vorlage genannte Ortsbezeichnung „Buxtehude“ ersatzlos wegließen.
 
Da die Grimms in mundartlich wiedergegebene Texte selten eingriffen, blieb der Titel mit der westfälischen Ortsbezeichnung „Dat Mäken von Brakel“ unverändert. Das gleiche gilt für den wenig bekannten Text „De Spielhansl“, das den Grimms aus dem böhmischen Niederösterreich in einer Dialektfassung zugekommen war. Als der Spielhansel die „krumpn Tuifeln“ aus der Hölle gelockt hat, um mit ihrer Hilfe den Himmel zu stürmen, zogen sie zunächst „af Hoihefuert (nach Hohenfuert), und hobnd d' Hopfnstange ausg'rissn“. Das auch durch sein Cistercienser Kloster berühmte Hohenfurth (Vyšší Brod) liegt im seinerzeit deutschsprachigen südlichen Böhmen, gehörte bis 1918 zu Niederösterreich, seitdem zur Tschechoslowakei (heute Tschechien). Die Erzählung wurde im Februar 1815 von dem seinerzeit berühmten Musiklehrer Simon Sechter (1788-1867) aus dem böhmischen Friedberg 1815 in Wien für Jacob Grimm aufgeschrieben und als eine Überlieferung in „Weitra in Deutschböhmen“ deklariert, wie Grimms es in ihrer Anmerkung festhalten. Sechter war seit 1810 in Wien ansässig, Jacob Grimm hielt sich dort von September 1814 bis Juni 1815 auf und war mit vielen Leuten aus Politik und Kultur bekannt geworden (Hans-Jörg Uthers bis heute in Wikipedia nachgesprochene Behauptung, Sechter habe die Niederschrift aus Weitra gesandt, ist unhaltbar). Der Ortsname Hoihefurth steht also bis heute in Grimms Märchen wie in Sechters Manuskript, ist aber bislang noch nirgendwo erläutert worden. Jedenfalls hat den bestimmten Ortsnamen der Beiträger - wie die Erzählerin des „Mäken von Brakel“ - aus seiner Heimat gekannt.
 
Ein logische und vielleicht sogar historisch stimmige Nennung zweier Örtlichkeiten findet sich im Märchen „Die drei Sprachen“: „In der Schweiz lebte einmal ein alter Graf“, dessen einziger Sohn bringt es in Rom zur Papstwürde; seitdem sitzen stets zwei weiße Tauben auf seinen Schultern „und sagen ihm alles ins Ohr“. Die einzige Nennung der Schweiz steht in einem Grimm'schen Text, der bezeichnenderweise von einem Schweizer (dem Notar Hans Tuffer aus Visp im Oberwallis) beigetragen wurde. Die Grimms haben die Wundergeschichte mit Recht der Gattung Legende zugeschlagen, die ja durchaus mit historischen Namen, Daten und realen Orten aufwartet. Ihr Hinweis, daß mit dem Papst der berühmte Innozenz III. gemeint sein könne, hat nur für sich, daß dieser der Sohn eines Grafen (allerdings aus Anagni) war. Mehr spricht für den ebenfalls von den Brüdern Grimm in Erwägung gezogenen geheimnisumwitterten Papst Silvester II., dem ein ähnliches Taubenwunder zugeschrieben wurde; Silvester war der erste französischsprachige Papst, und die Heimat des Grimm'schen Märchenbeiträgers ist eine katholische, französischsprachige Stadt im Schweizerischen Wallis. Wie dem auch sei: In diesem Text voller Wunder haben einmal zwei konkrete Ortsbezeichnungen ihren festen Platz und guten Sinn.
 
Ein ähnlicher Zusammenhang findet sich im Märchen „Von der Serviette, dem Tornister, dem Kanonenhütlein und dem Horn“, das der in der landgräflichen Garde du Corps dienende Corporal, Feldwebel und Quartiermeister Johann Friedrich Krause aus Breitenbach in Hessen-Kassel für die Märchen beigetragen hatte, das aber nur in der Erstauflage von 1812 erschien, 1819 von Wilhelm Grimm eliminiert wurde (dadurch sind der Text und seine Ortsnennungen kaum bekannt geworden, geschweige denn hinreichend kommentiert). „Es waren drei Brüder aus dem Schwarzenfelsischen, von Haus sehr arm, die reisten nach Spanien.“
Wie die westfälischen Beiträger Haxthausen die ihnen wohlbekannte Stadt Brakel (Kreis Höxter) und der walliser Beiträger Tuffer seine Schweizer Heimat einbrachten, so verfährt auch Krause, indem er das ihm bestens bekannte Amt Schwarzenfels, das 1807 bis 1810 zum Fürstentum Hanau (unter französischer Regimentschaft) gehörte, zu Beginn seiner Erzählung nennt. Ab 1810 wurde das Amt dem Großherzogtum Frankfurt unterstellt. Vor und nach 1810 sind hessische und hanauische Truppen für die als besonders grausam empfundenen Feldzüge gegen die spanischen Aufständischen ausgehoben worden, womit vielleicht die ansonsten in der Grimm'schen Geschichte völlig funktionslose Nennung Spanien erklärbar wird. Wie der Märchenheld war auch Krause selbst ein armer Soldat, dem in seinem Leben allerdings kein märchenhaftes Glück zuteil wurde.
 
Der Typus des Märchens von den „Bremer Stadtmusikanten“ ist seit dem Mittelalter in Deutschland bekannt und in vielen Varianten überliefert; der präzise Ortsname begegnet indes erst 1819 in der zweiten Auflage der Grimm'schen Märchen in einer Fassung, die auf einer Einsendung des Freiherrn August von Haxthausen („aus dem Paderbörnischen“) beruht. Es war lange unbekannt, warum die Brüder Grimm bei der Redaktion dieser Einsendung entgegen den Gattungsgesetzen und ihrem eigenen Verfahren die Bezeichnung „Bremen“ beibehalten und damit auf ihre Weise seit 200 Jahren zum Ruhm der Stadt beigetragen haben. Bei einer Forschungsreise zu den Haxthausens auf Gut Abbenburg bei Brakel erfuhr ich von einer mündlichen Tradition in der Familie: Der Einsender des Märchens von den Stadtmusikanten habe sich zeitlebens gerühmt, gerade diesen Text in Grimms Märchen „untergebracht“ zu haben (von den übrigen Dutzenden seiner Beiträge für die Grimm'sche Sammlung war offenbar nie die Rede!). Das ist wohl nur so zu erklären, daß August von Haxthausen in seinen Text, der ihm gewiss ohne Ortsbezeichnung zu Ohren gekommen war, den Namen der ihm verhassten Stadt einfügte. Das sollte ein Spott des Adeligen auf die damaligen bürgerlichen(!) Bemühungen um eine eigene Musikkapelle („Stadtmusik“) sein – die würde sich gemäß dieser Sottise wie das Durcheinanderschreien von Esel, Hund, Katze und Hahn anhören. Aus der Sottise hat die Stadt Bremen ihr erfolgreiches Logo entwickelt, und man ist bis heute stolz, daß diese Geschichte die armen Tiere tatsächlich bis in die Nähe ihrer Stadt führt.
 
Damit wäre die Frage nach Vorkommen und Funktion von Ortsnennungen in Grimms Märchen, wie man früher sagte, erschöpfend behandelt. Die Ergebnisse sind nicht eben üppig, aber der „Andacht zum Unbedeutenden“, der sich die Brüder Grimm zeitlebens verpflichtet fühlten, ist wohl Genüge getan.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2018