Turin und das Piemont 3

Reise-Empfehlungen für eine beschenkte Region

von Frank Becker

Al Bicerin - Foto © Frank Becker
Turin und das Piemont

Ein süßer Abschluß
 

Turin, Metropole der Kaffeehaus-Kultur
 
Kehren wir nach all den Besichtigungen noch einmal nach Turin zurück, um einen Bummel durch die bunten Einkaufsstraßen, Arkadengänge, Caffés oder über die belebte Piazza San Carlo zu unternehmen. Wenn auch der sinnenfrohe und Italien-begeisterte Altmeister Goethe 1786 auf seiner Flucht vor Charlotte von Stein Turin erst rechts und auf der Heimreise von Rom links liegen gelassen und somit die einzigartigen Spezialitäten dieser Region versäumt hat - das nach ihm benannte große deutsche Kulturinstitut empfiehlt ausdrücklich den Besuch der pittoresken und eleganten Cafés in der Stadt, in denen bereits der Aufenthalt ein sinnliches Vergnügen ist. Wer einmal die prachtvollen großen und versteckten kleinen Plätze der Stadt erkundet hat und beim Bummel durch wenigstens einen Teil der etwa 18 Kilometer schattiger Arkadengänge in die Kultstätten der Schokolade eingekehrt ist, in denen die Kunst von Caffé und Cioccolata, vor allem aber der „pausa di ricreazione“ zelebriert wird, dankt der Empfehlung. Denn das ist es, was den wahren Genuß überhaupt ausmacht: in eines dieser edlen Lokale eintreten, die verglaste Pforte zum Paradies am poliertem Messinggriff leise hinter sich schließen und Wetter, Lärm, Hektik - und Pflicht vor der Tür lassen.

 
Ricreazione - Foto © Frank Becker

Ricreazione
 
„Ricreazione“ ist mehr als nur ein Päuschen. Das hat man im beneidenswerten Italien dem ewig emsigen Norden voraus. Einmal alles stillstehen lassen und mit Hilfe eines Caffé, besser noch eines „Ristretto“ – so heißt hier schlicht das schwarze, starke, kräftig gesüßte heiße Getränk in kleinen Tassen, das in Deutschland „Espresso“ genannt wird, und „Giandujotto“, der berühmten Nougat-Schokolade-Praline, Spezialität Turins, der Seele Nahrung geben. Da nimmt man gerne auch zwei Täßchen, denn aromatischer und köstlicher wird er nirgends geboten. Die Namen der zugehörigen Lokale sind Legenden, sie zergehen auf der Zunge wie die schmelzenden Pralinen, die man zum duftenden Caffé nascht. „Caffé San Carlo“, „Caffé Mulassano“, „Caffé Fiorio“, „Liquoreria Caffé Platti Confetteria“, „Confetteria Baratti & Milano Liquoreria“, „Caffé Torino“, „Malabar“, „Confetteria Avvignano“, „Confetteria Pasticceria G. Pfatisch“, „Pasticceria Abrate Calvi“ oder „Confetteria Caffé Stratta“ sind nur einige der besonders empfehlenswerten und innenarchitektonisch ebenso delikaten Refugien unter diesen Tempeln der Sinnenlust, auf deren Altären manche feine Dame und ebenso mancher Herr (seufz!) seine schlanke Linie geopfert hat.


Caffé San Carlo - Foto © Frank Becker


Caffé Torino - Foto © Frank Becker

Die gediegene, oft kostbare historische Ausstattung, Vitrinen mit verlockenden Torten und Kuchen, Spiegelwände mit aufgereihten Köstlichkeiten in verführerischen Verpackungen und kaum zu überschauender Auswahl an bunten Bonbongläsern, Konfekt und Aperitifs, Samtpolster, kristallne Lüster, Seidentapeten, Fresken, Stuckarbeiten und Marmor verleihen den edlen Räumen Würde. Der Atem des Fin de siecle weht durch die Räume, deren Decken in ihrer kunstvollen Ausgestaltung mit Savoyer-Schlössern, Kathedralen und Opernhäusern wetteifern, und die Eleganz des Jugendstils bezaubert in prachtvollen Intarsien, wunderschönen Stühlen, Geländern und Balustraden und in der einen oder anderen Ladenkasse, die vielleicht mehr Wert repräsentiert, als sie enthält. Denn die Preise sind gering, volkstümlich. Die Caffés von Turin sind für die Bürger – und werden mit Grandezza angenommen. Die Turiner sind eben vornehme Menschen, die sich einen angemessenen Rahmen für die kleinen Genüsse geschaffen haben.

 
Confetteria Baratti & Milano - Foto © Frank Becker

 
Turiner Laubengang an der Piazza San Carlo, Caffé Torino - Foto © Frank Becker

Schöner als die Werbung – die Wirklichkeit
 
Das gedämpfte Gespräch, untermalt vom Fauchen der Kaffeemaschinen und Aufschäumer sowie dem dezenten Klappern von Löffelchen auf Porzellan vermittelt Ruhe und ein Gefühl von der Poesie und Philosophie, die in diesem Moment und an diesem Platz Besitz vom Gast ergreift. Das Wort ist mit Bedacht gewählt, denn hier ist der Gast noch wirklich einer. Auserlesen höflich und mit wacher Aufmerksamkeit bedienen die weiß beschürzten oder in dunkle Anzüge und blütenweiße Hemden gewandeten Kellner, die man respektvoll „Signore“ ruft. Daß süße Massenartikel wie die Kinder-Schokolade (die so heißt, weil Signore Kinder sie erfunden hat), der von Konditor Pietro Ferrero 1940 kreierte unvergleichliche Nougat-Brotaufstrich „Nutella“ und die Praline mit der „garantiert echten“ Piemont-Kirsche, die nicht unbedingt im Piemont wuchs, aus der norditalienischen Metropole Turin kommen, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Ebenso die traurige Wahrheit, daß die eingangs genannte Claudia Bertani ein Phantom der Werbe-Industrie ist. Doch der Trost, den man in der bezaubernden Stadt am Flusse Po findet, ist weit köstlicher als die zerstörte Illusion – er wird in allen berückenden Variationen der Schokolade und ihrer Aggregatzustände so allein hier und in ihren Tempeln gespendet.


Piazza San Carlo - Foto © Frank Becker 

Durchaus kann es in der Weltstadt Turin mit ihrer undurchsichtigen Verkehrsführung - nehmen Sie am besten nicht das eigene Auto, gehen Sie kürzere Wege zu Fuß oder nehmen Sie ein Taxi – Ihnen dann auf dem Heimweg begegnen, daß an einem milden Abend ein älterer Herr auf einer Bank der Piazza San Carlo sitzend auf seiner Mandoline Volkslieder spielt, sich eine Traube von Passanten bildet und feine Damen, elegante Herren, Arbeiter und Hausfrauen, Bürger, Banker und Flaneure so herzerfrischend fröhlich einstimmen, daß man ausrufen möchte: Italien, Du hast es besser!

 
Auf der Piazza San Carlo - Foto © Frank Becker 


Auf der Piazza San Carlo - Foto © Frank Becker 

Al Bicerin
 
Turin-Kenner vermissen jetzt im kulinarischen Teil des Berichts sicher noch einen oben bereits im Bild vorgestellten Namen, der ihnen und denen, die einmal dorthin reisen möchten, natürlich nicht vorenthalten werden soll. Das „Caffé Confetteria Al Bicerin“, bescheiden und unauffällig seit 1763 an der Piazza della Consolata liegend, mit Blick auf die herrliche Wallfahrtskirche, in der eine Kopie des Turiner Grabtuchs gezeigt wird, ist ein winziges Lokal mit großer Geschichte. Nietzsche soll hier eingekehrt sein und Alexandre Dumas d.Ä. hat „Al Bicerin“ und seine gleichnamige Spezialität lobend erwähnt: Ein heißes Getränk, aufgeschichtet aus je einem Drittel flüssiger Schokolade, starkem Kaffee und aufgeschäumter Milchcreme, das in einem hohen Glas serviert wird. Göttlich – aber Vorsicht!


Al Bicerin - Foto © Frank Becker 

Ein Bicerin hat vermutlich mehr Kalorien als ein mehrgängiges Menü! Und wer noch dazu die freundlich offerierte Bicerin-Torte nimmt, wird zwar Wohlbehagen verspüren, sich aber anschließend kaum noch bewegen können.


Gelateria Pepino - Foto © Frank Becker 

Im „San Carlo“ noch mal einen Caffé und ein Lunch zu nehmen und einen Bummel durch die bunten Einkaufsstraßen und Arkadengänge zu unternehmen oder über die belebte Piazza San Carlo zu schlendern, in der Gelateria „Pepino“ ein Eis oder im „Baratti e Milano“  Nougat zu naschen, schließlich im „Tre Galline“ ein letztes Mal mit Piemonteser Küche zu Abend zu essen, soll den Besuch des köstlichen und atmosphärischen Turin runden. Ciao! Alla prossima!


Tre Galline - Foto © Frank Becker  

© Frank Becker