Turin und das Piemont (1)

Reise-Empfehlungen für eine beschenkte Region

von Frank Becker

Das Piemont zeigt Herz - Foto © Frank Becker
Turin und das Piemont
 
Es gibt dort weit mehr als 111 Orte
die man gesehen haben sollte
 
 
„Ich glaubte nie, daß eine Stadt durch Licht
so schön werden könnte.“
Friedrich Nietzsche
 
Piemont. Im Werbefernsehen ist es die verklärte Heimat angeblich einmaliger Kirschen, die in Alkohol getunkt und von Schokolade umhüllt zumindest für Claudia Bertani zu Extasen der Geschmacksknospen führen sollen. Mag sein. Auch die von der Werbung immer wieder im Munde geführte Minze gibt es in Carmagnola gewiß. Allemal berühmter jedoch und von feinstem Wohlgeschmack ist die dortige Paprika, die dem Piemont mit Recht ungleich größeren Ruhm eingebracht hat.
Es gibt in der Gegend von Saluzzo in gepflegten Obstplantagen in der Tat Kirschbäume – aber auch knackige Äpfel, saftige Kiwi, goldene Pfirsiche, sonnenverwöhnte Weine, wohlschmeckende Birnen und pralle Beeren jeglicher Art. Die fruchtbaren Ebenen im Westalpenbogen westlich von Turin bringen durch den Fleiß der Bauern, die südliche Sonne und den guten Boden unerschöpfliche Mengen und Varianten von Früchten und Gemüse hervor, die den Grundstein der, fast möchte man sagen „sündhaft“ guten Küche dieses nordwestlichsten Stücks Italien im Winkel zwischen Frankreich, der Schweiz und Ligurien, bilden. Und darin als seine urbane Perle: Turin, das zweifelsohne zu den schönsten Städten Europas gehört.

 
Turin
 
Die landschaftlich abwechslungsreiche und geschichtsträchtige Provinz im Nordwesten Italiens mit ihrer Hauptstadt Turin und ihren sieben Provinzen Cuneo, Asti, Alessandria, Novara, Vercelli, Biella sowie Verbano-Cusio-Ossola birgt neben ihrer Vielzahl prächtiger Schlösser, Palazzi, Castelli, Villen und Herrensitze aus königlicher Zeit, in denen eine kaum überschaubare Menge an Kunstwerken vom 15. bis zum 19. Jahrhundert den Kulturreisenden erwartet, auch herausragende Sammlungen moderner Kunst, wie u.a. die Pinacoteca Giovanni e Marella Agnelli in Turin und die Kunstsammlung Castello di Rivoli. Überhaupt Turin: in der Stadt mit rund 900.000 Einwohnern, die ehemals Sitz der Könige war, wird für die Augen viel geboten. Architekturen und Kunstsammlungen aller italienischen Epochen, herrliche Plätze, elegante Cafés, schicke Modegeschäfte und für trübe Tage Museen, in denen man sich verlieren kann. So gibt es dort das Ägyptische Museum (Museo Egizio), das, wenn auch hoffnungslos verstaubt und muffig wirkend - wie nebenbei bemerkt auch einige der überladenen Schlösser - immerhin nach Kairo die zweitgrößte Sammlung antiker ägyptischer Kunstschätze der Welt hat. Das beeindruckende Gebäude der Mole Antonelliana, das einst als Synagoge geplant war, birgt heute das nationale italienische Filmmuseum – unbedingt einen Besuch wert!


Turin Mole Antonelliana - Foto © Frank Becker

 
Turin, Pinacoteca Giovanni e Marella Agnelli - Foto © Frank Becker

Venaria Reale und Dolce Stil Novo

17 ehemalige Savoyer-Residenzen hat das Piemont zu bieten, einigen davon statten wir einen kurzen Besuch ab. Da wäre zum Beispiel der Palazzo Venaria Reale, 1658-1679 von Amedeo di Castellamonte in der gleichnamigen Ortschaft erbaut, 1693 von französischen Truppen zerstört und 1699-1713 von Michelangelo Garove im Stil von Versailles neu gestaltet. Das wuchtige Gebäude und sein weitläufiger Park mit Wasserspielen und Barockgärten wurden in jahrelanger Arbeit umfassend instandgesetzt. Bilder von Balthasar Mathieu, Jan Miel, Giorgio Sandri Trotti, Melchior Hamers, Jacob van Schuppen, Andrea Locatelli und vielen anderen Größen schmücken die weitläufigen Hallen und Fluchten. Dauerausstellungen zeigen historische Versatzstücke und textile Kostbarkeiten aus der Geschichte der Savoyer. In die barocken Gärten wird zeitgenössische „Land Art“ gepflanzt - zugegebenermaßen gewöhnungsbedürftig.
Auch einen kulinarischen Grund gibt es, Venaria Reale zu besuchen, nämlich das in den Räumlichkeiten eines Seitenflügels des Schlosses gelegene Spitzenrestaurant „Dolce Stil Novo“ von Alfredo Russo, das bei striktem Understatement eine der besten Küchen des Piemont führt. Wer dort die Wirsingroulade im Nudelteig, den butterzart gegrillten Tintenfisch mit Kapersauce und die göttliche geschmorte Rinderwange gekostet hat, ist dem Himmel bereits ein ganzes Stück näher gekommen und das königliche Schloß wird zur Nebensache.
 
Zeitgenössische Kunst in historischen Mauern

Das Castello Rivoli im gleichnamigen Ort nahe Turin, ein groß angelegtes Bau-Projekt aus dem 18. Jahrhundert, wurde nie zu Ende gebracht. Kluge Restauratoren habe die antike Bauruine mit einem herausragenden Museum aktueller moderner Kunst kombiniert. Beton, Glas und Stahl vertragen sich allerbestens mit altem Mauerwerk.


Castello Rivoli  - Foto © Frank Becker

Die barocken Räume und die darin ausgestellten Arbeiten u.a. das raffinierte Spiegelsystem von Rebecca Horn (Mirror of the Lake“),Günther Förgs Kritzeleien („ohneTitel“), Maurizio Cattelans Environment „Charlie don´t surf“ und seine verblüffende Pferdeplastik „Novecento“, Bertrand Laviers Klavierobjekt „Steinway & Sons“, Paola Pivis („Fotografien“), Francesco Vezzolis begehbare Rauminstallation „Per Bruce con amore – Milva“, Claes Oldenbourgs „Loosje van Bruggen“ und die raumfüllende Riesenkugel „Houseball“ und Giuseppe Penones „Breathing the shadow“ harmonieren im Gegensatz zur Erfahrung mit der Venaria Reale überraschend gut. Draußen kann man eine elektrische Eisenbahn bewundern, die bei Wind und Wetter unablässig in 8 m Höhe ihre Runden dreht oder im eleganten Restaurant mit Blick über Rivoli speisen. Dieses Museum ist ein wirkliches Muß für Freunde zeitgenössischer Kunst, ein Ausflug lohnt.


Castello Rivoli, Maurizio Cattelan, Novecento  - Foto © Frank Becker

Racconigi

Der kleine Ort Racconigi in der Provinz Cuneo mit seinen nur knapp 10.000 Einwohnern birgt eine der kostbarsten Schloßanlagen der Savoyer. Schon im 14. Jahrhundert als Festung gegründet, wurde das mächtige Gebäude mehrfach umgebaut, 1676-1679 von Guarino Guarini, 1755-1757 von Giovanni Battista Borra, weitere Anbauten von Ernesto Melano kamen noch Mitte des 19. Jahrhundert dazu. Besonderen Ruhm genießen das chinesische Zimmer, das Russische Haus, das Herkules- und das Diana-Zimmer mit den prächtigen Wand- und Deckenmalereien. Kulturhistorisch besonders interessant sind die mit Original-Stücken eindrucksvoll so ausgestatteten Schloßküchen, Wohnräume der königlichen Kinder und der Bediensteten verschiedener Ränge, daß man jeden Moment erwartet, sie eintreten zu sehen.


Piemont, Schloß Racconigi - Foto ©Frank Becker 

Der Park in den enormen Maßen von 178 ha und mit altem Baumbestand von 36 Arten wird von etwa 25 km Wegen durchzogen, er wurde Ende des 18. Jahrhunderts von André Le Notre, dem Landschaftsmaler Giacomo Pregliasco und dem Gartenarchitekten Xavier Kirsten realisiert. Wer nach langem Spaziergang einkehren und ordentlich essen möchte, dem sei das „Il Torre“ empfohlen. Das Vitello conciata, die Torta tendasca, die Agnelotti, das Geflügel-Ragout „Gallina alla caccioatore“ und das Schokoladen-Bonet zum Dessert können sich sehen lassen.
 
Relikte der Renaissance
 
Eines der bedeutendsten Renaissance-Schlösser des Piemont findet sich in Lagnasco. Der Sitz der Markgrafen Taparelli wurde auf trockengelegtem Sumpfgelände ursprünglich bereits im 12. Jahrhundert gegründet und im 16. und 17. Jahrhundert umfangreich umgebaut. Auch dieses Schloß wurde umfassend restauriert. Aus anfangs drei Schloßanlagen (West, Mitte Ost) wurde ein wuchtiger Gesamtkomplex gebildet, dessen mehr als 1000 m² Fresken noch aus der Renaissancezeit heute eine große Attraktion sind.


Azienda Maero Emidio, Lagnasco, Winzermuseum - Foto © Frank Becker

Im benachbarten Weinberg der Azienda Maero Emidio findet sich ein bis unter das Dach mit historischem Gerät jeglicher Couleur vollgestopftes kleines Museum, das der dortige Winzer zusammengetragen hat und gerne erläutert.


Nun hat Marx de Morais für die interessante Reiseführer-Reihe des Emons Verlages „111 Orte, die man gesehen haben muß“ über Turin und das
Piemont unter dem genannten Motto  einen etwas andern Reiseführer geschrieben, in dem nicht unbedingt all das, was ich Ihnen hier geschildert habe, erwähnt wird. Der Band bietet aber eine spannende Alternative zu den herkömmlichen Cicerones, weshalb ich ihn Ihnen hier gerne ans Herz lege. Man sollte sich die archäologischen, urbanen, historischen, musealen,  kulinarischen, architektonischen und geographischen Tips dieses von illustriert von Douglas de Morais mit Fotos ausgestatteten Reiseverführers durchaus zu Herzen nehmen. Es gilt, zu entdecken, woran man sonst vielleicht vorbegegangen wäre.
 
Marx de Morais - „111 Orte in Turin und im Piemont, die man gesehen haben muß“
© 2017 Emons Verlag, 240 Seiten, Broschur, 13,5 x 20,5 cm, mit zahlreichen Fotografien
ISBN 978-3-95451-736-7
16,95 € [D] / 17,50 € [A]
 
Weitere Informationen: www.emons-verlag.de
 
Lesen Sie morgen hier Teil 2 unserer Piemont/Turin-Reportage

© Frank Becker