Vornehm begraben

Ein Beitrag zum Thema Geschlechterfriedhof

von Michael S. Zerban

St.-Laurentiuskirche Lunden - Foto © O-Ton

Vornehm begraben
 
Beitrag zum Thema Geschlechterfriedhof
von Michael S. Zerban
 
Auf dem Weg von Heide nach Friedrichstadt stößt man auf dieses braune Hinweisschild „Geschlechterfriedhof“. Also ab von der Schnellstraße und die sechs Kilometer bis Lunden über Landstraßen, hinein in einen Ort, der historisch bedeutsam heute ein eher stilles Dasein pflegt. Und unerwartet in eine dunkelbraune Vergangenheit führt.
 
Wer kennt Lunden? Wohl niemand, der nicht aus Dithmarschen kommt. Von ein paar Touristen abgesehen. Zwischen Heide und Husum in Norddeutschland gelegen, leben gerade mal 1700 Einwohner in der Gemeinde. Vermutlich haben in der Zeit der Großblüte des Fleckens noch viel weniger Menschen dort gelebt. Aber tatsächlich erhielt Lunden am 27. Februar 1529 die Stadtrechte verliehen, die es freilich 30 Jahre später wieder verlor. Es gäbe also tatsächlich keinen Grund, über die Gemeinde zu berichten. Wenn da nicht dieser Geschlechterfriedhof existierte.
 
Im Ortskern von Lunden liegt auf einer Anhöhe die St.-Laurentius-Kirche. Die ältesten Teile der Kirche stammen aus der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts. Heute ist der Zugang zum Gebäude untersagt. Die Einrüstung deutet auf Dachschäden hin. Auf dem umgebenden, welligen Rasenstück sind alte Steinplatten und Stelen zu erkennen. Reste eines Friedhofs, der als Denkmal an die so genannte freie Bauernrepublik Dithmarschen gilt. Eine Republik, die es formal nie gab. Weil aber vornehmlich die kirchlichen Lehnsherren aus Bremen sich nicht kümmerten, entwickelte sich eine bäuerliche Selbstverwaltung. Die Gegend prosperierte, und die an Geld und Einfluß reichen Familienverbände und Geschlechter ließen sich an der Kirche beisetzen. Das konnten entweder herkömmliche Erdgräber sein, die mit reich geschmückten Grabplatten verschlossen wurden, oder auch ganze Grabkeller, denen Stelen als sandsteinerne Namenslisten beigefügt wurden. Die tonnenförmig eingewölbten Grüfte wurden aus Ziegeln errichtet und verfügten über zwei Luftschächte. Im Grabinnern wurden die Särge auf Eisengestellen aufgebahrt, so daß sie der schnelleren Auflösung geweiht waren und nach unten fielen, so daß Platz für nachfolgende Särge war. Luftschächte dürften im Übrigen nicht nur die Zufuhr der Luft von außen bewirkt, sondern auch einen gehörigen Verwesungsgeruch verbreitet haben. Aber da war man im Mittelalter durchaus nicht empfindlich.


Zugang zu einer Gruft - Foto © O-Ton

Immer besonders sein dürfen
 
Solche Grabanlagen zeugten vom Wohlstand der Geschlechter. Die Geschlechterverbände sind eine Dithmarscher Besonderheit, weiß die Website der Familie Rateike-Pingel zu berichten. Sie bildeten sich im Zusammenhang mit der Besiedlung und Bedeichung des Landes als Genossenschaftsverbände heraus. Einem Geschlecht gehörten mehrere Familien an. Man half sich untereinander – und das erfolgreich. Der weitaus größere Teil der Bevölkerung wurde bis ins 19. Jahrhundert „namen- und spurenlos“ im Südosten des Friedhofs auf dem Armen- oder Glockenberg genannten Teil bestattet. Die Grabanlagen hingegen wurden gepflegt und vererbt, später auch verkauft. Und so konnte es passieren, daß letztlich die irdische Ungerechtigkeit doch noch aufgehoben wurde, wenn etwa eine Gruft einem anderen Geschlecht übereignet wurde. Auf diese Weise kam auch die Familie Pfahler in den Besitz einer Gruft. 1591 wurde hier der Landvogt Henning Boje als erster beerdigt. Im Laufe der Jahrhunderte wechselte der Keller mindestens sechs Mal die Besitzer. 1856 ging der Keller in den Besitz der aus Schwaben stammenden Familie Pfahler über. Daß dieser Familie ein ganz eigenes Bewusstsein innewohnte, wurde spätestens 1882 deutlich, als Johann Peters Pfahler sich in einem Glassarg beisetzen ließ. Und sie würden auch in der Zukunft noch eine besondere Rolle spielen.
 
Braunes Land
 
1938 wurde mit der Neugestaltung des Friedhofs begonnen. Da hatten die Dithmarscher sich schon ganz besonders in der Unterstützung Adolf Hitlers hervorgetan. Erzielte die NSDAP 1928 dort bereits 18 Prozent der Stimmen, waren es bei den Reichtagswahlen 1933 über 60 Prozent. Dithmarschen war die Region mit den meisten Trägern des goldenen NSDAP-Parteiabzeichens in Deutschland. Und so war die Neugestaltung unter der Leitung des vom „völkisch-nationalen Gedankengut“ geprägten Architekten Harry Maasz durchaus als politische Aktion zu verstehen, verherrlichten die Nationalsozialisten doch den Bauernstand als „Reichsnährstand“. Statt einer historischen Aufarbeitung stand für Maasz die romantisierte Kirchhofatmosphäre im Vordergrund. „Ich wollte und will erreichen die Patina eines alten Kirchhofes mit Wiesenblumen, mit Glockenblumen und Königskerzen, die sich ohne Menschenhand weiter aussäen und das ihre tun. Eine Rankrose hier und da um einen Stein – wie sie übrig blieb durch die Zeiten. Das schwebte meinem Gefühl vor“, erläuterte der Gartenarchitekt seinen Entwurf, der dem Dithmarschischen Lebensgefühl eher entsprach als die nationalsozialistische Großmannssucht. Goebbels wird diese kitschige Blut-und-Boden-Romantik gefallen haben.
Mit der Schließung des Friedhofs trat die Familie Pfahler noch einmal in Erscheinung. Sie erkaufte sich das Recht, in ihrer Gruft auch weiterhin Urnenbeisetzungen vornehmen zu dürfen. Und so geschah es tatsächlich. Im Jahr 1945 wurde ein Enkel des Johann Peters Pfahler, seinerzeit Oberbevollmächtigter des Karolinenkooges, der in Zürich starb, als letzter auf dem Geschlechterfriedhof Lunden beigesetzt.


Lunden, Pfahler-Gedenkstein - Foto © O-Ton

Friedhöfe können viele Geschichten erzählen. Und daß die „Honoratioren“ eines Ortes sich gern über den Tod hinaus besonders darstellen, immer in der Hoffnung, es möge doch noch ein Leben jenseits des Todes geben, führt nicht daran vorbei, daß sie tot sind und allein die Erinnerung an ihr Lebenswerk abseits der Größe ihres Grabsteins zählt. Wer unerlaubterweise über den Geschlechterfriedhof in Lunden schlendert, möge sich Zeit nehmen und in sich hineinhören, was dieser letzte Prunk nach dem Leben mit einem macht. Nichts. Oder vielleicht doch etwas, was so unmodern geworden zu sein scheint. Demut.
 
Michael S. Zerban