Kußräume

Aus dem Zettelkasten

von Erwin Grosche

© Archiv Musenblätter
Kußräume

(Verheerende Irrtümer im Alltag)
 
Lydia hatte sich bei der VHS angemeldet: „Wege aus der Isolation“. Es war ein Kursus, in dem man in zehn Schritten seine Schüchternheit überwinden sollte. Man lernte auf andere Menschen zuzugehen und ihnen nahe zu sein. Lydia freute sich auf diese Fortbildung. Sie hatte sich seit Wochen nur mit ihrer Katze unterhalten und brauchte dringend Ablenkung. So war sie frohen Mutes. Lydia hatte bei der Anmeldung gelesen, daß dieser Lehrgang in einem Kußraum stattfinden würde. Ein Kußraum hörte sich interessant an, als würde man die Praxis über die Theorie stellen. „Wie schön, dass es Kußräume gibt“, dachte Lydia. „Es sollte auch Lachräume geben und Trinkräume, in denen man enttäuscht sein darf.“ Später erfuhr Lydia dann, daß sie keinen „Kußraum“ vorfinden würde, sondern ein „Kursraum“. „Welch eine Enttäuschung“, dachte sie. Lydia saß über zwei Stunden so erwartungsfroh in einem Kursraum und wunderte sich, daß niemand anfing, sie zu umwerben, zumal Lydia an dem Tag auch noch so schön gewesen war. So hörte sie stundenlang einer Frau zu, die Lydia dauernd aufforderte, mehr aus sich heraus zu gehen und Lydia nickte bereitwillig. Natürlich fragte sie sich, wann denn endlich der praktische Teil beginnen würde. Später beichtete man ihr dann, daß sie zwar im richtigen Raum saß, aber dieser Kursraum kein Kußraum war, aber das war ihr inzwischen auch schon aufgefallen. Wenn in einem Raum nicht geküßt wird, kann das kein Kußraum sein. Einen Kußraum stellt man sich ganz anders vor. „Was bin ich nur für eine doofe Nuß“, dachte Lydia. „Jetzt wird der Kußraum auch noch zum doofen Nußraum.“, aber darüber mußte sie dann doch wieder herzlich lachen.
 
 
© Erwin Grosche
 
Das „Weltlexikon“, das sich aus Erwin Grosches Zettelkasten speist, wird im Oktober im Bonifatius Verlag erscheinen.