Nablus

Eine Reise ins Westjordanland (2)

von Anja Liedtke

Foto © Anja Liedtke

Nablus
 
Eine Reise ins Westjordanland (2)

Die nächste Station ist eines der beiden Flüchtlingslager bei Nablus. Aus diesem gingen in der Zeit der Intifada die meisten Selbstmordkandidaten von Palästina hervor.
Bevor ich das Lager sah, stellte ich mir eine Zeltstadt mit Stacheldraht vor, aus der niemand heraus darf. Jetzt sehe ich eng beieinanderstehende rohe Häuser. Zwischen ihnen winden sich dermaßen schmale Gassen, daß es keine Intimsphäre, wenig Luftzug und Licht gibt. Durch die Mitte des Ortes verläuft eine Straße bis zu beiden Enden. Früher waren die Enden durch Tore verschlossen, heute stehen sie offen. Trotzdem bleiben die Leute drinnen, denn ziehen sie fort, verlieren sie den Status als Flüchtlinge und den Anspruch auf ihren alten Besitz. Die meisten Einwohner des Flüchtlingslagers stammen aus Haifa. Sie flohen 1948 über das Karmelgebirge. 800 Menschen waren sie damals. Die Vereinten Nationen pachteten ihnen einen Quadratkilometer Land. Auf dem bauten sie Häuser. Sie bekamen viele Kinder. Für diese füllten sie die Lücken zwischen den Häusern. Enkel wuchsen heran. Für die errichteten sie die zweite Etage auf den Häusern. Aus 800 wurden 20 000. Die Enge verursacht Stress. Als sich zu Beginn der Intifada die Tore des Flüchtlingslagers schlossen und die Väter nicht zur Arbeit nach Nablus oder Israel kamen, verloren sie ihre Jobs. Der Stress stieg, das Prügeln von Frauen und Kindern war keine Seltenheit. Heute, da die Tore offen stehen, schickt man die Jugend in die Schulen und Universitäten außerhalb des Camps. Auch innerhalb sind Kinder und Jugendliche mit der Außenwelt vernetzt. Internet und Fernsehen zeigen ihnen, wie Andere leben. Zorn ist die Folge. Wut auf die Eltern, die das Camp nicht verlassen wollen, weil sie davon träumen, eines Tages nach Haifa in das Haus der Großeltern zurückzukehren; Haß auf die Juden, die ihren Familien das angetan haben. An den Häusern hängen Schlüssel, Symbole für Besitz. Denn nach altem arabischem Gesetz ist derjenige Eigentümer eines Hauses, der den Schlüssel besitzt. Gegenüber den Grundschulen wehen Transparente, auf ihnen ist zu lesen: „Wir kommen zurück, Haifa!“ Auf Leuchtschildern, die sich über Gassen spannen, sind schwarzvermummte Waffenträger verewigt. Ein Einwohner des Lagers in der zweiten Generation, Mahomed, erklärt, das seien die Märtyrer, die im Kampf fielen. An den Kreuzungen posen auf Fotos in kleinen Schreinen hinter Gittern junge Männer mit Panzerfäusten und Maschinengewehren. Diese Toten bilden die Vorbilder für die spielenden Kinder in den Straßen.
Trotzdem sagt Mahomed, alles, was sie sich wünschten, sei Frieden. Sie hätten nichts gegen die Juden, nur gegen deren Regierung. Palästinenser und Juden wollten nichts weiter als Essen, Wohnen, die Kinder zur Schule und zur Uni schicken. Aber was habe man ihnen angetan. Jede Familie litte unter einem Trauma. Seine Großmutter sei gestorben am Gram über die Vertreibung und Flucht. Die Mutter sei gemütskrank geworden, nachdem israelische Soldaten die Wohnung gestürmt und ihre Tochter berührt hätten. Wir wüssten doch, wie schlimm das für eine Muslimin sei. Seine Brüder säßen im Gefängnis, halbe Kinder, unschuldig, nur weil einer der Onkel zu den Palästinenserführern gehöre.


Dschihad - Foto © Anja Liedtke
 
Wir sitzen in einem Theatersaal in der oberen Etage eines Wohnhauses. Ivy ist es gelungen, für dieses Kulturprojekt Gelder aus Deutschland zu beschaffen. Auf der Bühne können Jugendliche durch Rapmusik, Mimik und Text ihre Frustration ausdrücken und lernen, sie positiv zu kanalisieren, anstatt zu schlagen und zu töten.
„Ihr Deutschen habt uns das eingebrockt“, sagt Mahomed, „weil ihr die Juden vertrieben habt. Jetzt müsst ihr uns helfen, damit fertig zu werden.“
Wie dünn die friedliche Oberfläche sich spannt, zeigt sich, als einer unserer Gruppe eine Frage stellt, die als Provokation aufgefasst wird. Ob die Juden nicht ebenfalls aus den arabischen Ländern vertrieben worden seien. Mahomed entgegnet, sie seien freiwillig gegangen. Unser Übersetzer schüttelt den Kopf. Mahomed fängt an zu schreien: „Ich erzähle nur, was ich weiß. Ich rede nicht über Dinge, von denen ich nichts verstehe. Sie sind hier Gäste. Als solche haben sie zuzuhören und keine provokanten Fragen zu stellen. Solange Sie bei uns sind, haben sie nicht zweifelnd mit dem Kopf zu schütteln.“
Ivy beruhigt Mahomed, mit dem er befreundet ist, und geht mit ihm auf der Straße eine Zigarette rauchen. Unterdessen tut der Pfarrer seine Meinung kund, er fände es die falsche Gelegenheit, zu diskutieren. Das könnten wir unter uns tun, aber nicht mit den Gastgebern.
Mir persönlich wird Akbar unangenehm, weil ich nicht mehr einschätzen kann, ob er zu unserem Schutz neben der Tür postiert ist, oder um uns festzuhalten.
Erleichtert treten wir aus dem Saal, wenn auch Akbar hinter uns geht und Mahomed vor uns. Aus den Haustüren schauen uns Musliminnen nach, die Kinder lachen und fragen: „Wie heißt du?“, und rufen „Welcome!
 
Als wir das Flüchtlingslager verlassen und zum Bus geführt werden, verläßt Akbar die Position hinter uns. Auf seinem schwarzen Shirtrücken wird jetzt in Weiß 194 und in Rot die 8 sichtbar. 1948 soll nicht vergessen werden. An die Vertreibung aus Haifa erinnern die Nachkommen der Flüchtlinge, bis die Demütigung gesühnt ist.


1948 - Foto © Anja Liedtke
 
Die Bustür steht noch offen, ein Buchhändler klettert hinein und spricht mit dem Fahrer arabisch. Der reicht ihm das Mikrofon und erlaubt ein paar Worte an uns zu richten. Der Händler aus Nablus-Stadt sagt: „Wir sind friedliche Leute, wir wollen nichts als Frieden. Wir haben nichts gegen die Juden. Wir hassen nur ihre Regierung. Ich habe einen Traum. Ich träume davon, daß meine Kinder eines Tages Präsidenten von Israel werden können.“
Er gibt das Mikro an den Fahrer zurück und steigt aus, während ich meine Sitznachbarin in die schweißnasse Seite kicke. „Träumte Martin Luther King nicht davon, daß seine Kinder zusammen mit Weißen an einem Tisch essen?“
 
Mahomed sagte zum Abschied: „Die roten Dächer, an denen ihr vorbeikommt, sind alles jüdische Siedlungen.“
Am Ende der Siedlungen wirft ein bewaffneter Soldat einem Blick in den Bus und winkt uns durch den Checkpoint. Wir fahren ein nach Israel.

©  Anja Liedtke