Der Skizzenblock eines Zwangsarbeiters

Philibert-Charrin – „Stift trifft oft”

von Joachim Klinger

Das besondere Buch:
Philibert-Charrin – „Stift trifft oft”
 
Der Skizzenblock eines Zwangsarbeiters
 
In der jüngeren deutschen Geschichte stoßen wir immer noch auf kaum belichtete Bereiche. Dazu gehört das Schicksal der Zwangsarbeiter, die von den Deutschen aus im Krieg besetzten Gebieten zum Arbeitseinsatz nach Deutschland geholt wurden. Ohne sie hätte die deutsche Kriegsmaschinerie nicht auf ihr Spitzentempo gebracht werden können, Höchstleistungen wären nicht möglich gewesen.
Die Zahl der Zwangsarbeiter ging in die Millionen. Diese nach Deutschland verpflichteten Menschen wurden nicht nur in der Rüstungsindustrie, im Bergbau und in anderen „kriegswichtigen” Betrieben ausgebeutet, sie ersetzten auch deutsche Männer, die als Soldaten an der Front kämpften, z.B in der Landwirtschaft.
Arbeitskräfte mögen ausgebeutet werden, sind aber nur von Nutzen, wenn sie in einigermaßen erträglichen Verhältnissen am Leben gehalten werden. Dazu ist ein Minimum an Versorgung notwendig. Ich habe in meiner Kindheit Zwangsarbeiter kennengelernt. Einer arbeitete auf einem Bauernhof, ein freundlicher Franzose, der mit der Familie des im Felde stehenden Bauern eng verbunden war. Dann zwei Polen, die mein Vater aus einem Lager zu Hilfe geholt hatte, als das Dach unseres Hauses bei Bombenangriffen schwer beschädigt worden war. Sie kamen mir ziemlich ausgehungert vor und waren für ein Stück Brot dankbar.
 
In dem Bilderbuch eines Zwangsarbeiters, das mit Unterstützung der Republik Österreich 2008 in der „Edition Milo im Verlag Lehner” erschienen ist, wird ein Kapitel zur Zwangsarbeit aufgeschlagen, das französische Bürger, die zum Einsatz nach Österreich transportiert wurden, in den Blick nimmt. Wie in dem Essay von Jürger Strasser einleitend zum Buch ausgeführt wird, waren unter den mehr als 13 Millionen Zwangsarbeitern im Deutschen Reich rund 2,2 Millionen Franzosen. Der mit dem Buch vorgestellte Karikaturist Philibert-Charrin kam (1920-2007) in österreichischen Gebieten zum Einsatz, die 1938 Teil des Deutschen Reiches geworden waren. Er war ziviler Zwangsarbeiter des „Service du travail obligatoire” (S.T.O.), den der französische Ministerpräsident Laval als Chef der Vichy-Regierung (die den unbesetzten Teil Frankreichs verwaltete) initiiert hatte, um im Gegenzug die Entlassung französischer Kriegsgefangener von den Deutschen zu erreichen.


Der Name des Einsatzgebietes ist der Tätigkeit eines Karikaturisten würdig. Es handelt sich um die Gegend der steirischen „Mur-Mürz-Furche”, in der Eisenerz abgebaut wurde und Industrieanlagen erweitert werden sollten. Philibert-Charrin wurde bei einer Firma angestellt, die Bauarbeiter beisteuern mußte. Er hatte das Glück, in einem Barackenlager am Dorfrand untergebracht zu werden, das nicht umzäunt war und weniger bewacht wurde.
Seine Situation erlaubte ihm, der von seiner Kindheit an gezeichnet hatte, auch als Zwangsarbeiter Eindrücke und Überlegungen grafisch zu gestalten. Karikatur ist aufmüpfig und setzt sich zu gern mit den gesellschaftlichen Verhältnissen auseinander. Dies trägt zugleich zu einer gewissen Erleichterung des Künstlers bei.


Wie sieht Philibert-Charrin seine Umwelt?
 
Die Herrschenden sind knorrige Typen mit dem Gamsbart am Hut, ein eher skurriles Personal und kaum bedrohliche NS-Schergen. Philibert-Charrin verulkt sie dementsprechend, steckt sie in den Trachtenanzug anstelle einer Uniform und läßt sie „Achtung! Schnell! Arbeit!” krakeelen (z.B. S. 35, 39, 49, 73, 83). Nachsichtig amüsiert er sich über schlappe Gestalten unter seinen Arbeitskollegen, die ungeschickt / unlustig ihre Schaufeln bewegen (S. 101, 105, 107, 111, 121). Intellektuelle bekommen durch körperliche Arbeit Schrumpfköpfe (S. 107), und verzogene Jünglinge entwickeln sich vom Spielkind im Sandkasten zu mageren Erdarbeitern (S. 43, s.o.).
Besonders hübsch sind bei Philibert-Charrin Wortspiele und versteckte Anzüglichkeiten. So wird die Zahl 20 „Zwang-zig” ausgesprochen (S.67), und die These des Zoologen Lamarck „die Funktion schafft das Organ” wird auf humorvolle Weise durch Schaufel-Gebrauch verdeutlicht (S.121). Vom bitteren Spott bis zum versöhnlichen Belächeln reicht die Haltung dieses Karikaturisten. Gewiß hat er oft zur Ermunterung seiner Kameraden beigetragen.
Auch der mitleidige Blick auf Zwangsarbeiter, die aus östlichen Ländern kommend geringere Wertschätzung erfahren und schlechter behandelt werden, fehlt nicht. Der Russe erscheint schnurrbärtig mit Ohrklappen-Mütze und wattierter Jacke (S. 41, 69) und die ukrainische Frau mit Kopftuch (S.29).
 

Die Zeichnungen sind keine kunsthistorisch bedeutenden Entdeckungen. Der Stil von Philibert-Charrin ligt auf der Linie von Jean Jacques Waltz, alias „Hansi”, Effel und Peynet. Aber die Bildersammlung ist ein einmaliges, beeindruckendes Dokument der Zeitgeschichte, das warme Menschlichkeit ausstrahlt und Spottlust in Zeiten brutaler Unterdrückung transportiert. Unterkriegen lassen wir uns nicht! – das ist die Devise.
Respekt den Autoren und Herausgebern!
 
Philibert-Charrin – „Stift trifft oft”
Der Skizzenblock eines Zwangsarbeiters- kommentiert von Jürgen Strasser
© 2008 Edition Milo im Verlag Lehner, 158 Seiten, gebunden, Schutzumschlag, 14,8 x 21 cm, mehr als 100 Abbildungen - ISBN 978-3-901749-64-3
14,40 €
Weitere Informationen: www.verlag-lehner.at