Wie sie spazieren gehen

von Victor Auburtin

Victor Auburtin
Wie sie spazieren gehen
 
Die Aprilsonne, die nun, ohne sich weiter anzustrengen, eine Maisonne geworden ist, blinzelt durch die Bäume des Tiergartens. Sie spiegelt sich auf den Gewässern um die Rousseauinsel herum und läßt die Denkmäler Luisens und Friedrich Wilhelms aufleuchten wie frisch gewaschen. Die gute Königin Luise hat ein gleichgültiges, der gleichgültige König Friedrich Wilhelm hat ein gutes Denkmal; und darüber möchte man sich eigentlich ein bißchen ärgern. Aber das ist bekanntermaßen in der Kunstgeschichte immer so, daß gerade die indifferentesten Leute die schönsten Denkmäler bekommen. Die großen Männer des Mediceerhauses fanden keinen ihrer würdigen Bildhauer; aber ihren namenlosen Epigonen setzte jener Michelangelo Grabfiguren, vor denen wir noch heute erschauern. Und in Deutschland hat das erfreulichste Monument in Düsseldorf ein wackerer Kurfürst, von dem sonst kein Mensch etwas weiß.
All das hindert die Enten auf dem Luisenteiche nicht, mit den Schwänzchen zu wackeln. Nichts in der Welt wird sie jemals hindern, mit den Schwänzchen zu wackeln; und zwar jede mit ihrem, damit keine Konfusion entstehe. Es sind Wildenten, die aber alle Wildheit abgelegt haben und sich gar artig und zierlich betragen in dieser bräutlichen Frühlingszeit. Die Männchen haben ihr buntes Hochzeitsröckchen angelegt, schwarz und silbern und blau, und ahnen dabei vermutlich gar nicht einmal, daß dieses ihr buntes Gewand ein wichtiges Argument für Darwins Lehre von der geschlechtlichen Zuchtwahl ist. Sie plustern sich auf und sind vergnügt und haben etwas von ihrem Leben.
 
Oben dort, das ist die berühmte Tiergartenstraße, und auf dieser Straße rast der homo sapiens einher. Es ist das in Berlin die schönste Straße zum Spazierengehen; an der grünen Wand des Parks entlang und an stillen Villen vorüber, in denen kluge, vornehme Menschen wohnen. Eine breite, gemächliche Straße, nicht geradeaus wie eine Geschäftsstraße; mit Sinuositäten, mit heimlichen Winkeln, mit vielen Bänken und mit weißen Magnolienblüten. Hier ist es gut, still seiner Wege zu gehen. Hier könnte der Berliner spazierengehen, Wenn er spazieren gehen könnte.
Das Spazierengehen der Berliner. Gerade jetzt ist die beste Zeit dazu; nachmittags eines lässigen Frühlingstages, und ich setze mich auf die Bank und sehe mir das einmal an, wie die Berliner so spazieren gehen.
Fleißige Leute, die nicht nach rechts und nicht nach links sehen. Ein Messengerboy, ganz blau vom Laufen. Drei Geschäftsdamen, die einen Wettlauf zu machen scheinen, so rennen sie; eine von ihnen sieht nach der Uhr, ruft „Gotteswillen“, und darauf laufen sie noch schneller. Zwei Herren, die langsam des Weges wandeln und sich so laut besprechen, daß alle Welt ihre Geheimnisse hören muß. Ich erhasche ein Gesprächsfragment: „Blödsinn, wo soll er denn die Baugelder herbekornmen? - Es ist doch ein Eckgrundstück. - Wo soll er denn die Baugelder herbekommen? - Ein Eckgrundstück, zehn Minuten von der Untergrundbahn. - Wo soll er denn die Baugelder herbekommen?“
Dann kommt einer, für den der Tag mit seinen schönen vierundzwanzig Stunden auch nicht lang genug zu sein scheint, denn er erledigt vier Geschäfte zugleich: mit den Beinen geht er, mit dem Munde kaut er, mit der linken Hand hält er eine Zeitung, in der er liest, und mit der rechten Hand sucht er in der Westentasche nach seinem Zahnstocher. Und über ihm blüht der Ahorn, und die Kronen rauschen selig, und weiße Blüten fallen. Und so geht der Berliner spazieren.
Oh, ihr klugen Enten, mit eurem klugen Schwänzchengewackel.
 
Auch die vielen Bänke zwischen all den weißen blühenden Magnolienbäumen sind durchaus nicht etwa dazu da, daß man auf ihnen sitzend eine Viertelstunde ins Grüne und Blaue blicke und ein Restchen seines Erdendaseins verträume . . . sie sind, wenigstens heute am Wochentage, dazu da, sich auf ihnen atemlos zu verschnaufen und dann hastig weiterzustürzen. Alte Männer sitzen da, Ausrangierte, die nicht mehr mitreden dürfen über die Baugelder; und kleine Kinder spielen mit Reifen und üben die Glieder und wachsen munter der herrlichen Zeit entgegen, da auch sie eilig Ledermappen tragen und während des Gehens kauen werden.
 
Was jedoch den Fahrdamm anbelangt, so rasen auf ihm die Automobile einher und schreien wütend, wenn ihnen etwas störend im Wege steht. Das eine kreischt laut wie ein altes hysterisches Weib, das andere bäht wie ein Schaf, das dritte brummt wie der Baßbuffo einer Sommeroper. Nur immer vorwärts, man kann nicht schnell genug an diesen überflüssigen grünen Bäumen vorbeikommen. Und mit einem schmerzlichen Lächeln denken wir daran, daß gutherzige Leute den Damm dieser Tiergartenstraße einmal zum Berliner Korso einrichten wollten.
Dieser schöne Plan scheiterte nicht, wie man oft gesagt hat, daran, daß wir keine Gesellschaft haben - wir haben reiche und glänzende Gesellschaft genug - er scheiterte daran, daß wir die Kunst des Müßigganges nicht kennen. Korsofahren? Spazierenfahren? Die Zeit vergeuden? Gott bewahre, wo kämen wir hin!
 
Wir kennen die Kunst des Spazierens nicht; die Kunst des Flanierens. Die Gabe ist uns versagt, uns einer Stunde ganz hinzugeben und nicht zu sorgen für den kommenden Morgen. Selbst die Reiter da auf ihrem Reitweg: ich bin fest überzeugt, nur die wenigsten von ihnen reiten, um zu reiten, um sich rhythmisch in der Natur auszuleben. Sie reiten, um schlanker zu werden, um sich für ihre Arbeit zu kräftigen, um zu verdauen; all die prangende Frühlingswelt ringsherum hat für sie denselben Wert, den ein Glas Bitterwasser haben würde.
Aber diese junge Dame da drüben, die scheint doch Wirklich in aller Gemächlichkeit spazieren zu gehen. Sie ist sehr hübsch, allzu hübsch, geht ganz allein, und langsam, und schlenkert mit dem Handtäschchen. Aha, aha! Argwöhnisch sieht der Schutzmann sich nach ihr um. In dieser emsigen Stadt Berlin sind Spazierengehen und Laster so ungefähr dasselbe.
Ich komme zu dem Resultat, daß die einzigen Leute, die das Leben zu nehmen wissen, jene Enten auf dem Teiche sind. In tiefem Sinnen betrete ich mein Stammrestaurant und bestelle mir erschüttert einmal Entenbraten mit Rotkraut. Er ist ganz ausgezeichnet; saftig, würzig, kurz, ganz so, wie man ihn von solch charmanten Geschöpfen erwarten durfte.
 
 
 Victor Auburtin