Die Kälte und die Weltgeschichte

(Die Moral ist ein isothermischer Begriff)

von Ferdinand Kürnberger

Die Kälte und die Weltgeschichte
Die Jugend ist ein geborner Nordländer; ich denke mit Vergnügen an die Zeiten zurück, wo ich meine Freunde mit Schneeballen bewarf, und meine Freundinnen Schlitten fuhren; aber sobald man vierzig und drüber ist, wird der Spaß etwas frostig. Man möchte dann seine Wohnung in Nr. 48 der nördlichen Breite kündigen und sich auf die sonnige Seite des Jammertals ziehen. Die Erde ist entsetzlich unpraktisch verteilt. Auf allen Breitegraden wohnt alles bunt durcheinander. Das sollte anders sein. Für die Jugend der Norden, aber für uns Herren „in den schönsten Jahren“ (wer lacht da?) ein paar gut möblierte Staaten in den Wendekreisen! Jede zivilisierte Regierung sollte darauf eingerichtet sein, daß sie für ihre „soliden und ruhigen Herren“ einige chambre-garni-Provinzen in der Nähe des Äquators reserviert hätte.
 
Der Vater des Volkes, der gute Kaiser Josef, traf auch hier das Richtige, als er uns Österreichern die Nikobaren annektieren wollte. Dieser hellsehende Monarch hat auch den Winter 1865 vorausgesehen und wohl gewußt, daß bei den Kohlentarifen der Nordbahn und 14 Grad unter Null an jedem Morgen der letzten Märztage sein Österreich nur bewohnbar sein würde – auf den nikobarischen Inseln. Aber das Gute geschieht nie in der Weltgeschichte. Es war schon ein Schnitzer, daß unsere indogermanischen Großväter ihre wohligen Wohnplätze zwischen Indus und Oxus verließen, um dieser unseligen Donau nachzugehen. Sie müssen einen elenden Bädeker gehabt haben. O warum gab es damals noch keine bayrische Polizei in Deutschland! Sie, welche schon vor achthundert Polen erschrickt, hätte eine halbe Million paß- und erwerbsloser Indogermanen doch gewiß nicht ins Land gelassen. Aber die Grenzpolizei war, allen Nachrichten zufolge, in jenen Tagen von außerordentlich liberalen Bären und Auerochsen gehandhabt, welche der Ansässigmachung der Indogermanen keinerlei gesetzlich begründete Hindernisse in den Weg legten. Sie brummten bloß ein wenig, schüttelten ihre schweren Hörner und zogen sich dann rücksichtsvoll ins Dunkel ihrer Urwälder zurück. Sogar jener Waldesel lebte schon damals, welcher auf seinem Rücken die Haut trug, woraus später ein Pergament und die Magna Charta gemacht wurde. Leider wurde der gute Esel scheu beim Anblick der Indogermanen, nahm die Flucht und schwamm hinüber nach England. Seine hinterlassenen Mitesel warten noch heute auf ihn.
 
So liberal ging es damals in Deutschland her. Und je tiefer die Indogermanen vordrangen, desto mehr gefiel ihnen der Liberalismus in Deutschland. Sie fanden Hirten, welche keine Hirtenbriefe schrieben, Jäger, welche keine Jagdzeitung und keine Ministerportefeuilles abonnierten; ihre Weiber gebaren, und niemand verlangte Taufsporteln; ihre Greise starben, und weder Pfarrer noch Pastor bestritten ihnen den Kirchhof. Da, wo heute in den verschiedenen Vaterländern der Staatsrat seine Sitzungen hält, fanden sie bloß ein paar alte Sümpfe, welche kaum noch ein tausend Jährchen brauchten, um auszutrocknen; wo jetzt die Kriegsministerien stehen, schüttelten Eichen ihre schmackhaften Früchte herab, und ernährten unentgeltlich tausend tapfere Keiler; auf den künftigen Bauplätzen der Steuerämter aber wuchs sogar ein grünes Hälmchen Gras! Die Indogermanen waren entzückt. Es mochte in ihrer Politik zu Hause manches verfahren sein; genug, sie ließen sich anlocken und probierten es mit dem gesunden und wohlfeilen System der Bären und Auerochsen, der Waldesel, Sümpfe, Eichwälder und Grasplätze. Leider war es auch das System der Eisschollen. Sie wurden aus warmen Indern kalte Germanen.
Aber auf die Länge geht's doch nicht. Die Kälte ist allzukalt. Ich behaupte im Ernste, der Gang der Weltgeschichte ist ein verfehlter. Die Ausbreitung des Menschengeschlechts von Süden nach Norden widerspricht der Natur. Darum haben sich auch die erobernden Südvölker der Mauren und Türken in Frankreich und Österreich aufs Haupt schlagen lassen; sie ahnten, daß sie zu weit gegangen, nämlich zu weit nach Norden, und zogen einen raschen Soldatentod dem langsamen, aber schmerzlichen Erfrieren unserer Wolfswinter vor. Jetzt sitzen sie am Goldenen Horn und in Marokko bei Gül und Bülbül; in Wien müßten sie Wohltätigkeitsakademien und Holz- und Kohlenkonzerte geben. Die Unglücklichen! „Gottes ist der Orient!“
 
Der Mensch ist geboren, nackt zu gehen und Kokosnüsse zu essen, nicht Uniformen zu tragen und Militärbudgets zu bewilligen. Die Soldaten exerzieren, um sich warm zu machen, und liefern Schlachten, um sich wärmer zu machen. Das Zivil wendet eine ungeheure Friktion von Kultur und Intelligenz an, bloß um Wärme zu entbinden. Rouland und Bonnechose, Vrints und Berger, der Staatsanwalt und die Presse, Schmerling und die Opposition – wenn sie übereinander klagen, so geschieht es, weil sie sich höchstens „den Kopf warm machen“ und nicht einmal den ganzen Leib. Das ist der Sinn ihrer Klagen.
Auf diesem Wege kann nichts besser werden. Was hilft uns die beste Konstitution bei 14 Grad unter Null an jedem Frühlingsmorgen? Fast wären die schlechten noch besser, man könnte sie doch zum Einheizen brauchen.
Nein, der Fortschritt des Menschengeschlechtes hat viel radikaler auszuholen. Nicht die Verfassungen, die Wohnplätze müssen wir ändern. Wir müssen von Norden wieder nach Süden zurückströmen.
 
Es ist die hoffnungsvollste Tatsache der jüngeren Weltgeschichte, daß das auch wirklich geschieht. Wir gehen nach Amerika und nennen's nach Westen gehen; aber das ist nicht wahr; unser westliches Gegenüber ist die Küste Labrador und die Eskimos; wir gehen nach Süden, indem wir nach Amerika gehen. So haben sich auch die Franzosen das Südland Algerien ins Haus geschlachtet, die Engländer wärmen sich in Indien und die Russen dringen nach Indien vor. Sogar die kleinen Holländer und die winzigen Dänen haben sich an ihren Nordlandshäusern ein paar Stuben auf der Sommerseite der Welt auszubauen gewußt. Nur wir Deutsche und Österreicher haben wie gewöhnlich nichts. Ich rate dringend, wenn wir wieder einmal nach Neapel marschieren, wie anno 20, so bleiben wir gleich dort, wie die Preußen in Holstein. Die armen Preußen! Je näher dem Nordpol, desto sicherer sind sie verloren. Das wußte der schlaue Graf Rechberg, als er den Erbfeind in sein gewisses Verderben lockte.
 
Geistliche und weltliche Moralisten loben die Sitte des germanischen Hauses, die Sitte der Väter. Aber die Väter haben auch schon die Väter gelobt und diese wieder die Väter. Aufsteigend gelangen wir so in jene starre Tugendregion, wo der Rhein noch bis auf den Grund zufror, und keine germanische Jungfrau ihr Fenster aufmachte, weil sie nicht unterscheiden konnte, ob es der Wolf oder der Jüngling sei, der nachts vor ihrem Fensterlein heulte. Die Tugend lag damals in der Luft, nämlich im Klima; sie brüllte mit Bären und Wölfen um die Wette. Es war einfach zu kalt für den paphischen Götterdienst. Riesige Kulturarbeiten mußten wir tun, um uns der Kälte zu erwehren; die Kälte verschwand endlich, und wie aus Wäldern und Sümpfen, so aus den Herzen; hier aber nennt man's das Verschwinden der Tugend. Wie seltsam! Ich entdecke da eine wichtige Wahrheit. Die Moral ist ein isothermischer Begriff! Seit wir unsere Urwälder so künstlich zu heizen verstehen, daß auch Debardeurs darin wohnen können, sind die Bären fort und die Debardeurs da. Was wollt ihr? Tugend? Nein, Kälte wollt ihr; ihr habt nur die Wahl zwischen Bären und Debardeurs. Aber Geduld! Zwei solche Winter noch wie der heurige Winter und der vorige Sommer, und wir werden fürchterlich sittlich werden.
 
Die Moral ist ein isothermischer Begriff. Seht doch die Mappen unseres wackern Selleny und fragt euch, ob die Debardeurs besser verhüllt sind oder die Jungfrauen auf den nikobarischen Inseln. Weitaus die ersteren. Und doch vermißt ihr auf den Nikobaren die Kleider nicht, nach denen ihr so schneiderhaft schreit im Kolosseum oder im Dianasaal. Was kann klarer sein? Nicht uns fehlt die Moral, sondern unserer Moral fehlt der richtige Breitegrad. Der achtundvierzigste ist zu kalt für sie; aber zwischen dem dreißigsten und zwanzigsten, da lägen „die heitern Regionen, wo die schönen Formen wohnen“, wie euer Nationaldichter Schiller so sehnsüchtig singt. Hört ihn doch, diesen klassischen Dichter, und folgt ihm womöglich, damit ihr euer Geld für seine vielen Denkmäler nicht umsonst ausgebt!
Hinweg aus dieser lasterhaften Kälte! Auf nach dem Süden, wo es so moralisch warm ist!
 
In die heitern Regionen,
Wo die schönen Formen wohnen!
 
Ferdinand Kürnberger, 1865