Unter vielen falschen Namen durch Europa

Gerald Szyszkowitz – „Das falsche Gesicht oder Marlowe ist Shakespeare“

von Dorothea Renckhoff

Unter vielen falschen Namen durch Europa:
 
Was Christopher Marlowe nach seinem Tod erlebte
 
Seit Jahrzehnten streitet die Forschung über die Frage, wer Shakespeares Stücke wirklich geschrieben hat. Zu viele Widersprüche um Person und Veröffentlichungen des Dramatikers haben die Phantasie dauerhaft beschäftigt und immer wieder neue Theorien provoziert. Eine dieser Theorien besagt, der wahre Verfasser der Shakespeare-Dramen sei Christopher Marlowe gewesen, mit Stücken wie ‚Tamerlan’ ‚Dr. Faustus’ und ‚Der Jude von Malta’ einer der potentesten Autoren der Elisabethanischen Zeit. Von wem aber stammen dann Werke wie ‚Hamlet’, ‚Othello’ oder ‚König Lear’ – alle nach 1593 entstanden, dem Jahr, in dem Marlowe in einem Londoner Vorort bei einem Abendessen erstochen wurde?
 
Gerald Szyszkowitz gibt mit „Das falsche Gesicht oder Marlowe ist Shakespeare“ und „Marlowe und die Geliebte von Lope de Vega“ eine überraschende Antwort auf diese Frage. Szyszkowitz ist ein intimer Kenner von Theater und Literatur mit reichen Erfahrungen in Theorie und Praxis: promovierter Theaterwissenschaftler, Regisseur und Dramaturg an vielen deutschsprachigen Häusern; mehr als zwanzig Jahre Fernsehspielchef beim ORF und Initiator aufregender Literaturverfilmungen, zehn Jahre lang Leiter der Freien Bühne Wieden in Wien und Verfasser von mehr als dreißig Theaterstücken und sechzehn Romanen, darunter mit „Der Thaja“ so etwas wie einem österreichischen „Stechlin“.
 
All diese Erfahrungen kommen in „Das falsche Gesicht“ und „Marlowe und die Geliebte von Lope de Vega“ zum Tragen. Szyszkowitz berichtet von Marlowes Studienjahren und ersten Erfolgen als Schriftsteller, aber auch von seiner Tätigkeit für den englischen Geheimdienst und seiner Zugehörigkeit zu freidenkerischen und atheistischen Zirkeln. Nachdem einige von deren Mitgliedern wegen Blasphemie hingerichtet worden sind, fürchten Marlowes einflußreiche Freunde, auch er könne auf Betreiben der Geistlichkeit festgenommen werden und unter der Folter ihre Namen als Gottesleugner nennen. Marlowe muß verschwinden, und zwar für immer.
Also inszeniert der Geheimdienst den anscheinend tödlichen Streit beim Abendessen, organisiert die Leiche eines Gehenkten, die man als Marlowe verkleidet, und einen Schuldigen, der bereits 28 Tage nach dem vorgeblichen Mord als freier Mann aus dem Kerker entlassen wird – während Marlowe unter falschem Namen per Schiff nach Frankreich und wenig später nach Ferrara flieht. Nicht ohne zuvor noch mit einem Londoner Theaterleiter, der noch nie ein Stück geschrieben hat, einen Handel abgeschlossen zu haben – Marlowe wird diesem Shakspere (!) über Vertrauensleute seine neuesten Werke zukommen lassen, und der wird sie unter seinem eigenen, nur leicht veränderten Namen aufführen und den wahren Autor einmal im Jahr dafür bezahlen. Marlowe ist tot, Shakespeare ist geboren.
 
Szyszkowitz nimmt den Leser mit auf seine Spurensuche – hochspannend, denn die beschränkt sich nicht auf alte Bücher und Schriften. Der Verfasser folgt seinem Helden zu den Schauplätzen von dessen abenteuerlichem Leben, und überall findet er Gewährsleute, die ihm mit Auskünften und Fingerzeigen weiterhelfen – in Archiven und Bibliotheken, aber auch in der Geschichte der Städte, die den Lebensweg des Flüchtlings markieren, und in deren Topographie. Da entstehen eindringliche Stimmungsbilder, etwa, wenn der Autor im verschneiten Venedig nach dem Palast sucht, in dem sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts die englische Botschaft befand.
Und jedes Mal, wenn sich bei dieser Recherche das Bild zum Tableau mit handelnden Figuren verdichtet, läßt Szyszkowitz das Szenario lebendig werden, erlaubt seinen Figuren, zu agieren und zu reden, ganz direkt, leidenschaftlich und unmittelbar. Der Leser wird Zeuge von Intrigen, Liebesverhältnissen und Skandalen, die nicht nur auf dem Theater stattfinden. Mit einem Mal ist er selbst dabei – auch dann, wenn den Dichter im Exil die Sehnsucht nach Rehabilitation und Heimkehr packt und er sich doch nur wieder ins nächste Abenteuer stürzen muß – am Ende allerdings nicht mehr allein, sondern mit der temperamentvollen Schauspielerin Micaela de Luján zur Seite, die der Verbannte im zweiten Band dem spanischen Dichter Lope de Vega ausspannen darf. Der raffinierte Wechsel der erzählerischen Ebenen macht beide Bücher auch formal zu einer ungemein reizvollen Lektüre.


Dorothea Renckhoff
 
Gerald Szyszkowitz – „Das falsche Gesicht oder Marlowe ist Shakespeare“ (Roman)
Mit einem Nachwort von Erich Schirhuber.
2015 EDITION ROESNER, 176 Seiten, Halbleinen mit Lesebändchen
ISBN 978-3-903059-01-6
24,20 €
 
Gerald Szyszkowitz – „Marlowe und die Geliebte von Lope de Vega“ (Novelle)
2016 EDITION ROESNER, 168 Seiten, Halbleinen mit Lesebändchen
ISBN 978-3-903059-11-5
24,20 €