Der Spießer mag keine Bilder, die mit sittlicher Energie aufgeladen sind...

Die Kunsthalle Emden zeigt Maxim Kantors „Das neue Bestiarium“

von Jürgen Koller

Maxim Kantor, Brauner Frühling 2016 © Maxim Kantor 

Der Spießer mag keine Bilder,
die mit sittlicher Energie aufgeladen sind...
 
Die Kunsthalle Emden zeigt Maxim Kantors „Das neue Bestiarium“
 
Die Überschrift ist einem Brief von Maxim Kantor an Henri Nannen aus dem Jahre 1987 entnommen. Wie ist der Kontakt zwischen dem Journalisten und Kunstsammler Nannen und dem jungen, damals 31jährigen Moskauer Künstler Kantor entstanden? Es war die Zeit unter Partei- und Staatschef Michael Gorbatschow, der mit „Glasnost und Perestroika“ (Öffnung und Veränderung) eine neue Ära in der Politik der verknöcherten Sowjetunion einleitete. Henri Nannen, stets wißbegierig und interessiert an Neuem, besuchte 1986 auf eigene Initiative mehr als 50 Ateliers junger Künstler in Moskau und Leningrad. Einer von denen, die mit ihren Werken nicht mit der offiziellen ideologischen und kulturpolitischen Linie konform gingen, war Maxim Kantor. Der junge Maler und Grafiker, Absolvent des Polygrafischen Instituts in Moskau, gehörte zu der im Untergrund arbeitenden Künstlergruppe Krasny Dom (Rotes Haus). Kantor war Mitorganisator verbotener Tagesausstellungen in Moskau. Die Malerei und die grafische Kunst Maxim Kantors standen konträr zur geforderten sozialistisch-realischen Kunst mit ihrem falschen Lob der Welt des schönen Scheins. Ganz im Gegenteil – in expressiver Bildsprache formulierte der Künstler seine Wut und Empörung über die sowjetischen Lebensumstände, aber auch seine Ängste und sein Mitleid mit den Menschen, die der totalitären sozialistischen Diktatur ausgeliefert waren. Nannen war beeindruckt vom „Mut Maxim Kantors, existenzielle Extreme wie Szenen aus dem Straflager, der Psychiatrie oder den vom Mangel geprägten Alltag darzustellen.“ Der Gründer der Emdener Kunsthalle erwarb etliche Gemälde von Kantor, u.a. das erschütternde Großformat „Visite“, das eine Ärzteschar in der Psychiatrie zeigt, die eher Schlächtern ähneln als helfenden Medizinern. Bemerkenswert ist dabei der formale Aspekt der gewagten perspektivischen Verkürzung, die an Tintoretto, aber auch an den russischen Avantgardisten Petrow-Wodkin der 20er Jahre erinnert, etwa an „Der Tod des Kommissars“ von 1927. Die Kunsthalle unter Henri Nannen richtete Kantor und anderen systemkritischen Künstlern unter dem Titel „Glasnost - Die neue Freiheit der sowjetischen Maler“ bereits im Jahre 1988 eine vielbeachtete Schau aus.
 
 
Maxim Kantor, Vier Reiter, Portfolio 2003/04 © Maxim Kantor
 
Spätestens seit Maxim Kantor, dessen Werk in Europa, aber auch in Übersee eine großartige Resonanz findet, 1997 den russischen Pavillon der Biennale Venedig 'bespielte', gehört der Künstler zu den angesehensten russischen Malern. Kantor lebt und arbeitet auf der Île de Ré (Frankreich) und hält sich jährlich mehrmals länger in London und Berlin auf. Er hat neben der russischen die argentinische und seit 2016 auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Nach dem Ende des Sowjet-Reichs fand Kantor seine Themen und künstlerischen Sujets in der ökonomischen Raffgier der Oligarchen und dem politischen Machtmißbrauch der neuen Eliten. Der Titel der gegenwärtigen Ausstellung in Emden geht auf die Bestiarien des Mittelalters zurück, die von Gelehrten und Mönchen verfaßt und reich mit Fabelwesen wie Drachen, Einhörnern oder anderen Fantasiegeschöpfen bebildert waren. Diese Bestiarien dienten der Belehrung in Moral und Religion. Und so versteht sich Maxim Kantor in der Gegenwart als Warner und Rufer. Das neue Bestiarium benennt die Drachen der Gegenwart, richtet das Augenmerk auf die Bestien unserer Zeit – den erstarkenden Nationalismus in Rußland, den Machtmißbrauch in der Türkei, den braunen Rechtsaußen-Tendenzen in Deutschland und den europafeindlichen Kurs in England. „Die Ausstellung vermittelt Maxim Kantors persönlichen Eindruck der „Monster-Realität“ und erzählt von einer verletzlichen Zivilisation... Wie im Mittelalter – eine Zeit, in der Unwissenheit und Aberglaube eine Bedrohung darstellten – braucht es Drachentöter und Helden, die die Menschheit wachrütteln und befreien.“ Ein Hauptwerk der Emdener Ausstellung ist das neue Großformat „Drache“ von 2015.


Maxim Kantor, Drache 2015 © Maxim Kantor


Der Drache als Verkörperung des Bösen und Zerstörerischen, der ohne Respekt und Ehrfurcht vor dem Leben über die Menschen hinweg trampelt. Das Ungeheuer auch als Rechtfertigung der Gewalt und totalitärer Unterdrückung aller, die sich in den Weg stellen. Der Totenkopf mit Krone trägt bewußt die Züge des russischen Machthabers Putin – sein Weg der Macht wird vom Tod begleitet. In der Ausstellung von sechzig Arbeiten ist auch ein 'anderer' Kantor zu sehen. Für den Künstler ist ein steter Dialog mit den historisch-christlichen Wurzeln und Werten unserer westlichen Kultur von großer Bedeutung. Ein Beleg dafür ist das beeindruckende Gemälde „Kathedrale im Ozean“ (2013), das aussagt, daß unser seit frühester christlicher Zeit gewachsenes Wissen, unsere Kultur und Zivilisation nicht in der Anonymität und Belanglosigkeit im Unendlichen des 'Meeres' untergehen darf. Stark, mit expressivem Pinselstrich, sind auch die Porträts historischer Persönlichkeiten. Bleibend in der Erinnerung des Betrachters die in dominantem Rot gehaltenen Bildnisse seines Vaters, der ob seines Widerstandes gegen die Sowjet-Diktatur den jungen Künstler in moralischer, aber auch philosophischer Hinsicht geprägt hat. Erwähnt werden müssen noch die farbstarken, neoexpressionistischen Gemälde in Grün und Blau mit Motiven des stürmischen Meeres als Urgewalt und zugleich ewigem Lebensquell oder undurchdringliches Baumdickicht – bei letzteren geben ein Vogelnest oder ein aus dem Dickicht führender Pfad Hoffnung. Die Emdener Ausstellung zum 60. Geburtstag Maxim Kantors ist ein bemerkenswert markanter Start ins Ausstellungsjahr 2017.
 
 
 
Maxim Kantor, Kathedrale im Ozean 2013 © Maxim Kantor
 
Maxim Kantor - Das neue Bestiarium - bis 7. Mai 2017
Öffnungszeiten: Di bis Fr 10 bis 17 Uhr, Sa, So/Feiertage 11 bis 17 Uhr
jeder erste Di/ Monat 10 bis 21 Uhr – (Kunstabend)
 
Publikation zur Ausstellung:
„Maxim Kantor: Das neue Bestiarium.“- Hrsg. Cristina Barbano und Guy de Muyser
Mit Beiträgen von Ignace Berten, Alexander Borovsky, Eckhart Gillen, Vittorio Hösle, Antje-Britt Mählmann, Andrew Teal und Stephen Whitefield
© 2017 Wienand Verlag, 192 Seiten, gebunden, 24 x 29 cm, 95 farbige Abb., 9 s/w Abb. - ISBN 978-3-86832-362-7
36,- €

Kunsthalle Emden - Hinter dem Rahmen 13 - 26721 Emden
Info-Tel. 49(0) 4921 97500