Ein Wunder, daß die Alten noch leben!

von *

Ein Wunder, daß die Alten noch  leben!
 
Als Kinder saßen sie in Autos ohne Sicherheitsgurte und ohne Airbags.
Ihre Kinderbettchen waren bunt angemalt mit Farben, die aus Schwermetallen und schlimmen
Lösungsmitteln zusammengesetzt waren. Türen und Schränke waren eine ständige Bedrohung für ihre Fingerchen.
Die Hustensaft-Fläschchen aus der Apotheke konnten sie ohne Schwierigkeiten öffnen, denn sie hatten keinen Sicherheitsverschluß - ebenso wenig wie die Bleichmittel aus dem Supermarkt.
Auf dem Fahrrad trugen sie nie einen Helm.
Sie tranken Wasser aus Wasserhähnen und nicht aus Flaschen.
Sie bauten Wagen aus Seifenkisten und entdeckten während der ersten Fahrt den Hang hinunter, daß sie die Bremsen vergessen hatten. Damit kamen sie nach einigen Unfällen trotzdem klar.
Sie verließen morgens das Haus zum Spielen, blieben den ganzen Tag weg und mußten erst zu Hause sein, wenn die Straßenlaternen angingen. Niemand wußte, wo sie in der Zwischenzeit waren, denn sie hatten nicht mal ein Handy dabei!
Sie haben sich beim Spielen geschnitten, die Knie abgeschürft, die Knochen gebrochen oder Zähne verloren. Aber niemand wurde deswegen verklagt. Es waren eben normale Unfälle. Es wurde kein Schuldiger gesucht, denn sie betrachteten sich einfach selbst als schuld daran. Keiner fragte nach „Aufsichtspflicht“, „Haftung“ oder „Rechtsschutzversicherung“.
Sie prügelten sich, kämpften und schlugen einander manchmal bunt und blau. Und sie vertrugen sich von selbst wieder - ohne Gewaltvermeidungskonzepte und Streitschlichterprogramme.
Die Mädchen mußten sich auch ohne Koedukation und Selbstbehauptungskurse entwickeln; es gab keinen Frauenfußball und kein Frauenboxen.
Die Sonnenfinsternis betrachteten sie durch eine Glasscherbe, die sie mit Ruß geschwärzt hatten und wurden nicht blind davon.
Sie aßen Kekse, Brot dick mit Butter bestrichen, tranken sehr viel und wurden trotzdem nicht dick.
Sie tranken mit ihren Freunden aus einer Flasche und niemand starb an den Folgen.
Wie armselig mußten sie ihre Freizeit gestalten: ohne 96 Fernsehkanäle, Playstation, Nintendo, X-Box, Videospiele, Videofilme, Surround-Sound, eigene Fernseher, eigene Computer, CD-Brenner, i-Pod, Pokemon go! und Internet.
Aber sie hatten Freunde. Sie gingen einfach raus auf die Straße und trafen sie dort. Oder sie marschierten einfach zu deren Wohnung und klingelten. Manchmal klingelten sie erst gar nicht und gingen einfach hinein. Ohne Terminabsprache und ohne Wissen ihrer Eltern. Keiner begleitete sie hin und wieder zurück.
Sie redeten persönlich miteinander und mußten auf SMS, Chatrooms, E-Mails und Whatsapp verzichten.
Ihre Telefongespräche konnte jeder mithören, weil sie keine eigenen Geräte besaßen.
Sie mußten überhaupt auf vieles verzichten; auf eigenen MP3/4, DVD-Player und eigene Handys und Smartphones.
Sie mußten selbst spielen, selbst sprechen, selbst schreiben und selbst zuhören.
Überall mußten sie zu Fuß hingehen: zum Sportverein, zum Musikunterricht, zum Ballett oder zum Reiten. Kein Elternauto brachte sie hin oder holte sie wieder ab.
Beim Straßenfußball durfte nur mitmachen, wer gut war. Wer nicht gut war, mußte lernen, mit Enttäuschungen klarzukommen.
Wer frech war oder den Unterricht störte, bekam in der Schule auch schon mal einen Klaps. Die Lehrer brauchten dafür von den Eltern keine Anzeige wegen Körperverletzung zu befürchten, sondern ernteten Zustimmung.
Manche Schüler waren nicht so schlau wie andere. Sie rasselten durch Prüfungen und wiederholten Klassen. Das führte nicht zu Elternprotesten, Dienstaufsichtsbeschwerden oder gar zu Änderung der Leistungsbewertung.
Mangelhafte Leistungen wurden knallhart formuliert: „Die Rechtschreibleistungen von Fritz sind ungenügend“. Wie gern hätten sie den heutigen Satz, „Friedrich hat in differenzierenden
Aufgabenstellungen im Rechtschreibunterricht manchmal ausreichende Leistungen erbracht“ gelesen.
Ihre Taten hatten Konsequenzen. Das war allen klar und keiner konnte sich verstecken. Wenn einer als Ladendieb erwischt wurde, gab es ein Verfahren. Die Eltern griffen nicht die Polizei an, sondern waren sogar ihrer Meinung. So etwas!
Im zarten Alter von 14 oder 15 mußten sie ihre Lehrstellen antreten. Sie nannten sich „Lehrling“ und mußten mit der Tatsache „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ überleben lernen.
Wie war das nur möglich!
Diese Generation hat eine Fülle von innovativen Problemlösern und Erfindern mit Risikobereitschaft hervorgebracht. Wie konnte das nur geschehen, wo sie doch mit soviel Freiheit, Mißerfolg und Verantwortung allein umgehen mußten?
Gehören Sie auch zu dieser Generation? Und Sie leben noch?
Dann herzlichen Glückwunsch!
 


Diesen Artikel haben wir mit freundlicher Erlaubnis aus der Zeitschrift „Freiburger Kreis“, Heft 11/2004
übernommen. Der Autor ist nicht bekannt, wir würden uns aber freuen, wenn er sich bei uns meldet.